Mit Tic-Störungen im Kindesalter richtig umgehen

Dr. Alexandra Bischoff

Tic-Störungen betreffen etwa jedes 7. Kind und enden häufig nach der Pubertät. (Agenturfoto) Tic-Störungen betreffen etwa jedes 7. Kind und enden häufig nach der Pubertät. (Agenturfoto) © iStock/KatarzynaBialasiewicz

Blinzeln, Schulterzucken, Grunzen oder Bellen – Tic-Störungen betreffen etwa jedes siebte Kind. Doch nur bei wenigen ist der Leidensdruck so hoch, dass sie eine Therapie brauchen. Meist genügt eine umfassende Psychoedukation, die das soziale Umfeld mit einschließt.

Als ihr Sohn im Grundschulalter anfing, ständig mit den Augen zu zwinkern und sich zu räuspern, fragte die Mutter einen Kinderarzt um Rat. „Das verwächst sich noch“ war seine Antwort. Im Laufe der Zeit kamen Schulterzuckungen hinzu, die der mittlerweile 12-Jährige zwar für eine Weile unterdrücken konnte, es dafür aber irgendwann umso stärker „rauslassen“ musste. Den Jungen belasteten die Geräusche und Zuckungen viel weniger als seine Mutter. Sie befürchtete die Entwicklung eines Tourette-Syndroms und eine damit verbundene soziale Ausgrenzung und suchte deshalb erneut einen Pädiater­ auf. Der konnte sie nach wie vor beruhigen.

Meist beginnt es mit Bewegungen im Gesicht

Tics zählen mit einer Prävalenz von 15 % im Kindesalter zu den häufigsten psychiatrischen Störungen, schreiben Viktoria Höfflin von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der TU Dresden und ihre Kollegen. Das Störungsbild äußert sich durch plötzlich einsetzende, unwillkürliche, nicht-rhythmische Bewegungen oder Lautäußerungen ohne erkennbaren Zweck.

Risikofaktoren für einen chronischen Verlauf

  • frühes Auftreten von Tics
  • familiäre Komponente (Tics, Zwänge, ADHS)
  • vokale und komplexe Tics
  • Komorbiditäten (hyperkinetische Störungen oder Zwänge)
  • aggressive Verhaltensweisen

In der Regel beginnt es mit motorischen Tics, meist zuerst im Gesicht, die sich dann über die Schultern zu den Extremitäten ausbreiten. Nach 2–4 Jahren können sich vokale Tics dazugesellen. Qualität (motorisch/vokal), Komplexität (einfach/komplex), Intensität, Frequenz und Lokalisation der Tics unterliegen häufig einer wellenförmigen Fluktuation (6- bis 12-wöchige Phasen) ohne erkennbaren Grund. Man weiß aber, dass äußere Faktoren wie Stress, Übermüdung, emotionale Erregung oder Entspannung die Ausprägung positiv oder negativ beeinflussen. Mit zunehmendem Alter spüren viele Kinder ein Vorgefühl (z.B. Kribbeln im Bauch oder Druck im Kopf), wenn sich ein Tic ankündigt. Wie bei dem o.g. Jungen können ihn die Betroffenen eine Zeit lang unterdrücken oder bewusst in Willkürhandlungen einbauen. In der Genese spielen vermutlich neben genetischen, neurobio­logischen und psychologischen Faktoren auch Bakterien (Auto­immunreaktion nach Infektion mit beta-hämolysierenden Streptokokken) eine wichtige Rolle. Jungs sind häufiger betroffen. Etwa 15 % der Tics im Kindesalter verschwinden nach ein paar Wochen wieder. Störungen, die länger als ein Jahr andauern, erreichen meist zwischen dem 12. und 14. Lebensjahr ihren Höhepunkt und enden häufig nach der Pubertät wieder.

Tic oder Zwang?

Probleme kann die Unterscheidung zwischen Tics und Zwangsstörungen bereiten. Sie ist aber wichtig, da eine frühe Therapie von Zwängen eine Chronifizierung verhindern kann. Zwangshandlungen lassen sich daran erkennen, dass sie meist ritualisiert und zielgerichtet erfolgen. Das zielgerichtete Ausführen soll die meist mit der Störung assoziierte Angst mindern. Ein Tic dagegen reduziert eher die sensomotorischen Vorgefühle. Die Autoren raten daher, besonders auf begleitende Ängste zu achten.

Nur 1 % entwickelt ein Tourette-Syndrom

In 3–4 % der Fälle gibt es einen chronischen Verlauf und nur 1 % entwickelt ein Tourette-Syndrom. Die Diagnose wird in der Regel anhand einer ausführlichen Anamnese, die auch das nähere Umfeld mit einschließt, und einer organischen Ausschlussdiagnostik (inkl. internistisch-neurologischer Untersuchung) gestellt. Als differenzialdiagnostisch bedeutsame Anamnese­marker gelten:
  • Der Patient hat sensomotorische Vorgefühle (z.B. Muskelanspannung, Kribbelgefühl, Kitzeln, Stechen, Jucken­).
  • Ein Tic schwächt diese Gefühle ab oder lässt sie verschwinden.
  • Ein Tic lässt sich unterdrücken.
  • Nach längerem Unterdrücken nimmt die Symptomatik zu (Rebound-Phänomen).
  • Die Symptomatik lässt bei Konzentration (z.B. Ausführen willkürlicher Bewegungen) nach.
  • Die anatomische Lokalisa­tion wechselt.
  • Im Schlaf nehmen die Symptome ab oder sie verschwinden sogar.
  • Frequenz und Intensität schwanken im zeitlichen Verlauf.
  • Es besteht eine „Suggestibilität“ bis hin zu einer Echolalie/-praxie (unterhält man sich über „Zwinker-Tics“, zwinkert der Patient vermehrt).
Therapeutisch hat die Behandlung der häufig vorliegenden psychiatrischen Komorbiditäten wie Zwangsstörungen (30–60 %), ADHS (50 %) oder emotionaler Störungen (50 %) Priorität und verbessert häufig die Tic-Symptomatik. Ansonsten reicht in der Regel eine umfassende Psycho­edukation des Betroffenen und des Umfelds (inklusive Lehrer und Erzieher­) aus. Ist dennoch eine Therapie nötig, sollte die Indikation sehr streng gestellt werden und sich allein am Leidensdruck des Patienten (z.B. sozialer Rückzug, körperliche Beschwerden, Funktionseinschränkungen) orientieren – regelmäßige Kosten-Nutzen-Abwägung vorausgesetzt. Mögliche Behandlungskonzepte wie die symptomfokussierte Verhaltenstherapie (z.B. Reaktionsumkehr) oder Medikamente (z.B. Tiaprid off label > 1 Jahr) zielen darauf ab, die Beschwerden auf ein erträgliches Niveau zu reduzieren.

Quelle: Höfflin V et al. Monatsschrift Kinderheilkunde 2020; 168: 169-176; DOI: 10.1007/s00112-020-00840-z

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Tic-Störungen betreffen etwa jedes 7. Kind und enden häufig nach der Pubertät. (Agenturfoto) Tic-Störungen betreffen etwa jedes 7. Kind und enden häufig nach der Pubertät. (Agenturfoto) © iStock/KatarzynaBialasiewicz