Erinnert an Tourette, ist es aber nicht

Dr. Andrea Wülker

Betroffene Kinder und Jugendliche fallen auf – kein Wunder, dass die Medien das Thema Tourette aufgegriffen und teils eigenwillig interpretiert haben. Betroffene Kinder und Jugendliche fallen auf – kein Wunder, dass die Medien das Thema Tourette aufgegriffen und teils eigenwillig interpretiert haben. © iStock/designer491

Tourette oder nicht Tourette? Hinter unwillkürlichen vokalen und motorischen Phänomenen steckt nicht immer ein Tourette-Syndrom. Mitunter liegt stattdessen eine funktionelle Bewegungsstörung vor. Die Differenzierung kann schwierig sein, ist aber entscheidend für eine adäquate Therapie.

Das Tourette-Syndrom ist eine neurologisch-psychiatrische Erkrankung, die sich durch motorische und vokale Tics äußert. Unter letzteren versteht man unwillkürliche Laut- und Wortäußerungen, die vom Hüsteln über Quieken und Grunzen bis zum lauten Schreien von Silben oder Wörtern reichen. Meist beginnt die Störung im Kindesalter. Fast immer macht sich die Symptomatik schleichend mit einfachen motorischen Abläufen wie Augenverdrehen, Blinzeln, Kopfrucken oder Grimassieren bemerkbar, schreiben Carolin Fremer und Kolleginnen von der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover. Komplexe motorische Abläufe, die verschiedene Muskelgruppen oder Körperregionen einbeziehen, sind beim Tourette-Syndrom hingegen deutlich seltener.

Betroffene Kinder und Jugendliche fallen auf – kein Wunder, dass die Medien das Thema in den letzten Jahren aufgegriffen und teilweise eigenwillig interpretiert haben. Einige Kinofilme widmen sich der Erkrankung („Vincent will Meer“, „Ein Tick anders“). Es gibt Youtube-Kanäle wie „Gewitter im Kopf“, die vorgeblich über das Krankheitsbild informieren möchten und die bei Kindern und Jugendlichen fast Kultstatus haben, berichten die Autorinnen.

Zeitgleich zu dieser Entwicklung stellen sich in spezialisierten Zentren immer mehr junge Menschen vor, die funktionelle Bewegungsstörungen mit Tic- und Tourette-ähnlichen Symptomen aufweisen. Die Differenzierung zwischen einem „echten“ Tourette-Syndrom und der funktionellen Störung mit entsprechenden unwillkürlichen Abläufen kann schwierig sein, ist aber entscheidend für eine adäquate Therapie.

Tourette oder nicht Tourette?
Tourette-Syndrom
Funktionelle Bewegungsstörung mit Tic- und Tourette-ähnlicher Symptomatik
Beginn der Symptomatik
  • meist zwischen 6. und 8. Lebensjahr, Jungen drei- bis viermal häufiger betroffen
  • 99 % der Fälle vor dem 15. Geburtstag
  • langsam einschleichender Beginn
  • zuerst einfache motorische Tics, nach zwei bis drei Jahren Laut- und Wortäußerungen
  • Beginn überwiegend im Jugend- und frühen Erwachsenenalter
  • häufiger bei Mädchen und Frauen
  • plötzlicher, abrupter Beginn
  • von Anfang an komplexe Bewegungen, oft laute Vokalisationen und ganze Sätze
Symptomverlauf
  • Fluktuationen der Tics in Art, Häufigkeit und Anzahl
  • Maximum zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr
  • oft kontinuierliche Verschlechterung mit Zunahme von Komplexität, Häufigkeit, Symptomzahl
  • große Symptomvielfalt, Symptome können sich täglich ändern
Phänomenologie
  • einfache motorische Tics, meist mit Augen, Gesicht, Kopf
  • bei schweren Formen (komplexere) Tics in anderen Körperbereichen
  • vokale Tics: Räuspern, Hüsteln, Fiepen, einzelne Silben
  • komplexe Bewegungen von Oberkörper und Armen, selten im Gesicht
  • verkrampfende, verdrehende Bewegungen
  • Vokalisationen: Vielzahl von Wörtern und ganzen Sätzen, oft mit vulgärem Inhalt
Koprophänomene
  • selten („fuck“, „shit“, „Scheiße“)
  • Versuch, die Wörter zu unterdrücken
  • häufig: Ausrufen von Schimpfwörtern, sozial unpassenden Begriffen, Beleidigungen
  • oft während der Untersuchungssituation
bizarre und sozial unpassende Handlungen
  • selten: unpassende Ausrufe
  • in der Regel keine komplexen Handlungen
  • häufig: Hinunterwerfen von Essen oder Gegenständen, Auskippen von Getränken, Stoßen anderer Personen
Vorgefühl und Unterdrückbarkeit
  • sehr kurzes Vorgefühl vor Auftreten des Tics, manchmal mit Unterdrückbarkeit
  • Betroffene berichten meist nicht von einem Vorgefühl
  • willentliche Unterdrückbarkeit: völlig fehlend bis stundenlang
situative Einflussfaktoren
  • Zunahme der Tics bei Stress und Emotionen
  • Abnahme bei Entspannung und Konzentration
  • starke Beeinflussung der Symptomatik durch Umgebungsfaktoren
  • Verschlechterung in unangenehmen Situationen und in Anwesenheit anderer

Es gibt verschiedene Merkmale, die bei der Abgrenzung helfen (siehe Tabelle). So beginnt das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom fast immer langsam einschleichend im Kindesalter, meist zwischen dem sechsten und achten Lebensjahr. Die funktionelle Bewegungsstörung mit Tic- und Tourette-ähnlicher Symptomatik dagegen startet abrupt und tritt überwiegend bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf.

Psychotherapie statt Medikamente

Auch die Art und Ausprägung der Krankheitszeichen unterscheidet sich, ebenso die Faktoren, die die Tics verschlimmern oder abschwächen können. Beim Tourette-Syndrom stehen Psychoedukation und Verhaltenstherapie mit dem Habit Reversal Training im Vordergrund sowie eine Medikation mit Antipsychotika wie Aripiprazol. Bei den funktionellen Bewegungsstörungen mit Tic- und Tourette-ähnlichen Symptomen empfiehlt sich eine Psychotherapie, bei Bedarf flankiert von Physio- und Ergotherapie. Eine wirksame medikamentöse Behandlung der funktionellenStörung ist nicht bekannt.

Quelle: Fremer C et al. DNP 2021; 22: 48-53; DOI: 10.1007/ s15202-021-4642-5

Falls Sie diesen Medizin Cartoon gerne für Ihr nicht-kommerzielles Projekt oder Ihre Arzt-Homepage nutzen möchten, ist dies möglich: Bitte nennen Sie hierzu jeweils als Copyright den Namen des jeweiligen Cartoonisten, sowie die „MedTriX GmbH“ als Quelle und verlinken Sie zu unserer Seite https://www.medical-tribune.de oder direkt zum Cartoon auf dieser Seite. Bei weiteren Fragen, melden Sie sich gerne bei uns (Kontakt).


Betroffene Kinder und Jugendliche fallen auf – kein Wunder, dass die Medien das Thema Tourette aufgegriffen und teils eigenwillig interpretiert haben. Betroffene Kinder und Jugendliche fallen auf – kein Wunder, dass die Medien das Thema Tourette aufgegriffen und teils eigenwillig interpretiert haben. © iStock/designer491