Tourette-Syndrom: Wie behandelt man die Tics am besten?

Dr. Anja Braunwarth

Für Patienten mit schwerem Tourette ist auch die tiefe Hirnstimulation eine Option, um die Tics unter Kontrolle zu bekommen. Für Patienten mit schwerem Tourette ist auch die tiefe Hirnstimulation eine Option, um die Tics unter Kontrolle zu bekommen. © RFBSIP – stock.adobe.com

Die Tics beim Tourette-Syndrom treiben nicht nur die Betroffenen, sondern oft auch das gesamte Umfeld zur Verzweiflung. Welche therapeutischen Maßnahmen in diesen Fällen sinnvoll sind und wann aufmerksames Abwarten Priorität hat, diskutiert ein Team internationaler Experten.

Kulturübergreifend leiden bis zu 1,5 % der Schulkinder an einem Tourette-Syndrom (TS), unter Erwachsenen schätzt man die Prävalenz auf 1:1000. Per Definition gehören zur Diagnose multiple motorische Tics sowie mindestens ein vokaler, die über mehr als ein Jahr lang auftreten. Bei der Mehrzahl der Patienten kommt es zu psych­iatrischen Komorbiditäten, insbesondere einer ADHS (30–50 %) oder einer Zwangsstörung (10–50 %). Zwischen dem zehnten und zwölften Lebensjahr erreichen die Tics meist ihren Höhepunkt, in der Adoleszenz klingen sie oft ab.

Um Kollegen einen Überblick über die Effizienz der möglichen Therapien zu geben, führte das Team um Dr. Tamara­ Pringsheim­ von der Cumming School of Medicine der Universität Calgary ein systematisches Literaturreview durch, wobei 81 Arbeiten berücksichtigt wurden.1 Zwei Fragen standen dabei im Mittelpunkt:

  • Welche Intervention bessert die Tics stärker als Placebo?
  • Welche Risiken sind mit den Therapien verbunden?

Die Schwere der Tic-Symptome wurde in den Studien bevorzugt mit der Yale Global Tic Severity Scale erhoben, kurz YGTSS.

Zwischen hoher Evidenz und mittlerem Zutrauen

Mit „hoher Evidenz“ überzeugen konnte im Placebovergleich nur die Comprehensive Behavioral Intervention for Tics (CBIT). Sie umfasst neben dem Habit Reversal Training („Gewohnheits-Umkehr-Training“, HRT) u.a. eine ausführliche Psychoedukation, ein Achtsamkeitstraining zur Wahrnehmung von Tics und Vorahnungen sowie Entspannungsverfahren.

Mittleres Zutrauen darf man laut den Autoren zur tiefen Hirnstimulation des Globus pallidus (nur Erwachsene) und zu folgenden Medikamenten haben:

  • Haloperidol, Risperidon, Aripiprazol, Tiaprid,
  • Clonidin
  • Onabotulinumtoxin A (Injektionen)
  • aus der Traditionellen Chinesischen Medizin: 5-Ling-Granulat, Ningdong-Granulat in der Zhao-Formulierung

Bei begleitender ADHS eignet sich Methylphenidat mit oder ohne Clonidin. Nehmen betroffene Kinder Atomoxetin, hat dies keinen negativen Einfluss auf die Tics.

Abwarten und beobachten durchaus erlaubt

Wenig überzeugen konnten dagegen die Neuroleptika Pimozid und Ziprasidon sowie Metoclopramid, Guanfacin, Topiramat und Tetrahydrocannabinol. Völlig unzureichend waren die Belege für Substanzen wie Baclofen, Levetiracetam, N-Acetylcystein, Omega-3-Fettsäuren, Nikotin und Riluzol. Zu den möglichen Nebenwirkungen dieser Therapien gehören Gewichtszunahme (außer Atomoxetin), erhöhte Prolactinspiegel, Sedierung, Bewegungsstörungen, Anstieg von Puls und Verlängerung der QT-Zeit.

Nebenwirkungen der Tic-Therapie
Medikament
Nebenwirkung
Risperidon, AripiprazolGewichtszunahme
Pimozid, Haloperidol, Metoclopramiderhöhte Prolactinspiegel
Risperidon, Aripiprazol, Tiaprid (physische Erschöpfung, Schlafstörungen), Clonidin, Guanfacin (v.a. Schwindel)Sedierung
Pimozid, Haloperidol, Risperidonmedikamenteninduzierte extrapyramidale Bewegungsstörungen
Atomoxetin bei komorbider ADHSHerzfrequenzanstieg
Pimozidverlängerte QT-Zeit

Aus ihrem Review leitet die gleiche Autorengruppe Empfehlungen für die Behandlung ab.2 Die Kollegen betonen, dass sich aufgrund des natürlichen Verlaufs der Erkrankung zunächst ein abwartendes Verhalten rechtfertigt. Zumindest solang die Tics keine funktionellen Beeinträchtigungen verursachen. Das sollte man mit den Patienten und ihren Betreuern ausführlich besprechen. Ist eine Behandlung gewünscht bzw. notwendig, stellt die Comprehensive Behavioral Intervention die Maßnahme der ersten Wahl dar.

Eine komorbide ADHS geht bei Kindern gehäuft mit funktionellen Verschlechterungen einher. Sie sollte daher adäquat therapiert werden. Liegt eine begleitende Zwangsstörung vor, sprechen Betroffene schlechter auf selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer an. In diesen Fällen raten die Experten zu einer störungsspezifischen kognitiven Verhaltenstherapie. Zu achten ist darüber hinaus auf weitere psychiatrische Komorbiditäten – u.a. Ängstlichkeit, Stimmungsschwankungen, Suizidalität.

Die CBIT zählt auch bei gravierenderen Tics zum optimalen First-Line-Management. Allerdings müssen die Patienten und ihr Umfeld darüber aufgeklärt werden, dass sich die unkontrollierten Bewegungen in der Regel nicht vollständig abstellen lassen. Acht Sitzungen zeigen bereits Erfolg, in Studien hielt er über sechs Monate an. Die Intervention scheint stärker wirksam, wenn die Patienten keine Pharmaka gegen die Tics erhalten. Gibt es vor Ort keine Möglichkeit für eine CBIT, kann sie auch via Internet oder Telekonferenz erfolgen.

Alpha-Agonisten wie Clonidin und Guanfacin kommen vor allem bei simultaner ADHS infrage, weil sie beide Krankheitsbilder günstig beeinflussen. Unter der Medikation sollten regelmäßig Blutdruck, Puls und EKG kontrolliert werden. Ist ein Absetzen geplant, mahnen die Experten zum Ausschleichen, da ein abrupter Stopp zur Hypertonie führen kann.

Die Evidenz für Cannabis ist dünn

Der Einsatz von Neuroleptika, die immer in der niedrigst wirksamen Dosis verordnet werden sollten, erfordert die Kontrolle von Gewicht, Bewusstsein, Prolactinspiegeln und Bewegungsabläufen. Bei Antipsychotika verbietet sich ebenfalls ein plötzliches Therapieende wegen der Gefahr von Entzugsdyskinesien.

Lokalisierte und belastende, einfache motorische Tics oder schwere vokale bei Älteren eignen sich für die Onabotulinumtoxin-A-Injektionen. Der Effekt hält etwa 12–16 Wochen. Betroffene müssen wissen, dass es zu temporärer Muskelschwäche und Hypophonie kommen kann.

Topiramat bietet eine Alternative bei milden Tics, wenn die vorgenannten Maßnahmen versagen. In niedriger Dosis (25–150 mg/d) wird es zwar gut vertragen, dennoch drohen Nebenwirkungen wie kognitive/sprachliche Probleme, Somnolenz, Gewichtsverlust und erhöhtes Risiko für Nierensteine.

Einige Patienten nehmen auf eigene Faust Cannabis. Obwohl die Evidenz dünn ist, halten die Autoren eine THC-basierte Therapie durchaus in refraktären Fällen für sinnvoll (Erwachsene!). Als Kontraindikationen nennen sie Schwangerschaft, Stillzeit und bestehende Psychosen. An akuten Beleiterscheinungen müssen adulte Patienten mit Schwindel, Mundtrockenheit, Fatigue und eingeschränkter Fahrtüchtigkeit rechnen. Bei Jugendlichen könnte Cannabis auch langfristige Auswirkungen auf Kognition und Affekt haben.

Tiefe Hirnstimulation als Ultima Ratio

Tourettepatienten mit schweren Symptomen, die weder auf Medikamente noch auf Verhaltenstherapien ansprechen, profitieren ggf. von der tiefen Hirnstimulation. Der ventrale Globus pallidus internus und die zentromediane Thalamusregion scheinen dafür am ehesten geeignet. Die Kandidatenauswahl sollten Psych­iater/Neurologe, Neurochirurg und Psychologe gemeinsam treffen.

Für die Zukunft erhoffen sich die Kollegen weitere medikamentöse Optionen. Zurzeit befinden sich u.a. der D1-Antagonist Ecopipam und mehrere Dopaminsenker in klinischer Prüfung.

Quellen:
1 Pringsheim T et al. Neurology 2019; 92: 907-915; DOI: 10.1212/WNL.0000000000007467
2 Pringsheim T et al. Neurology 2019; 92: 896-906; DOI: 10.1212/WNL.0000000000007466

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