Molekularbiologie rückt in den Vordergrund

Ulrike Viegener

Unter allen Krebsdiagnosen macht der Anteil von pädiatrischen Malignomen nur rund 1 % aus. Unter allen Krebsdiagnosen macht der Anteil von pädiatrischen Malignomen nur rund 1 % aus. © iStock/syntika

Erstmals gibt es eine eigene Klassifikation pädiatrischer Tumoren, die Experten – in Zusammenarbeit mit der Internationalen Agentur für Krebsforschung – erarbeitet haben. Entstanden sind zwei Blue Books, die diese onkologischen und hämatologischen Erkrankungen umfassen.

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Dieser Satz trifft auch auf Krebserkrankungen zu. Pädiatrische Malignome weisen im Vergleich zu Tumoren im Erwachsenenalter grundlegende Unterschiede auf – das ist seit Langem bekannt. Besser fassbar wurden diese Unterschiede allerdings erst mit den Untersuchungsmethoden der Molekularbiologie bzw. -genetik.

Histologische Typisierung auf den zweiten Platz verdrängt

Bisher wurden pädiatrische Malignome in den – nach Organsys­tem geordneten – „Blue Books“ der WHO zusammen mit Krebserkrankungen im Erwachsenenalter abgehandelt. Jetzt gibt es erstmals ein eigenständiges, zweibändiges blaues Buch für onkologische und hämatoonkologische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter, das wie alle „Blue Books“ fortlaufend aktualisiert wird.

Hintergrund für die Neuklassifikation pädiatrischer Malignome ist eine Fülle neuer Erkenntnisse aus dem Bereich der Molekularbiologie. Mehr und mehr vollzieht sich in der Onkologie ein Paradigmenwechsel, der für die pädiatrische Onkologie eine besondere Relevanz besitzt: Die molekulargenetische Testung rückt in den Vordergrund, während die histologische Typisierung zwar nach wie vor einen hohen Stellenwert besitzt, aber zunehmend auf den zweiten Rang „verwiesen wird“. Einer Übersichtsarbeit zur Neuklassifikation pädiatrischer Malignome in Cancer Discovery haben Prof. Dr. Stefan Pfister vom Hopp-Kindertumorzentrum und Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg und Ko-Autoren deshalb den Titel „Transition from The ­Optical into the Molecular Era“ gegeben.1

Die Daten verschiedener Studien der letzten Jahre haben gezeigt, dass sich pädiatrische Karzinome in ihrer Genetik fundamental von Tumoren im Erwachsenenalter unterscheiden. Wesentliche Erkenntnisse stammen aus Heidelberg, wo am Hopp-Kindertumorzentrum Spitzenforschung betrieben wird. Das KiTZ ist Forschungs- und Therapiezentrum zugleich und hat sich zum Ziel gesetzt, einen raschen Transfer von Grundlagenforschung in die praktische Anwendung zu ermöglichen.

Prof. Pfister leitet am KiTZ die „Präklinische Pädiatrische Onkologie“. Mit seiner Arbeitsgruppe hat er wesentlichen Anteil an der Schaffung des Datenfundaments, das die Basis der neuen WHO-Klassifikation bildet. 2018 publizierte die Gruppe eine Arbeit zu genetischen Charakteristika pädiatrischer Malignome, die auf der Untersuchung von knapp 1.000 Gewebeproben von 24 verschiedenen Tumorentitäten beruht.2

Den Ergebnissen zufolge ist die Mutationslast bei pädiatrischen Tumoren deutlich – und zwar im Schnitt um den Faktor 15 – geringer als bei adulten Karzinomen. Was keine Überraschung ist, da sich krebsfördernde Mutationen, auch unter dem Einfluss schädlicher Lebenseinflüsse, im Laufe der Zeit ansammeln.

Viele pädiatrische Krebsentitäten beruhen auf einem einzelnen Gendefekt. Das ist ein weiterer Unterschied zu Tumoren im Erwachsenenalter, bei denen fast immer mehrere Mutationen zusammenspielen. Bei adulten Malignomen wurde inzwischen eine Vielzahl von Treibermutationen identifiziert, wobei ein und derselbe Treiber bei ganz unterschiedlichen Entitäten vorkommen kann.

Auch das ist bei vielen pädia­trischen Karzinomen anders: Die verantwortlichen genetischen Veränderungen sind oft krankheitsspezifisch. Offenbar sind die betroffenen Gewebe in der jeweiligen Entwicklungsphase so vulnerabel gegenüber dem spezifischen Gendefekt, dass eine einzelne Mutation ausreichend sein kann, um den Prozess der malignen Entartung zu starten. 10–15 % der pädiatrischen Krebserkrankungen beruhen auf Keimbahnmutationen. Viele davon sind exakt beschrieben. Für die restlichen 85 % aller päd­ia­trischen Malignome dürften Spontanmutationen verantwortlich sein, die sich während der Embryonalentwicklung oder nach der Geburt ereignen. Die molekularbio­logische Forschung steht in diesem Bereich jedoch erst am Anfang.

Ein weiterer grundlegender Unterschied zwischen Tumoren bei Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen betrifft das Ursprungsgewebe. Die weitaus meis­ten Malignome im Erwachsenenalter sind Karzinome, gehen also von Epithelgeweben aus. Ganz anders die Tumoren im Kindes- und Jugendalter: Hier handelt es sich in erster Linie um Erkrankungen des blutbildenden Systems, des Bindegewebes und des Gehirns. Deren Ursprung liegt im Mesoderm oder Neuroektoderm.

Alle pädiatrischen Malignome zählen zu den seltenen Erkrankungen, die durch eine Inzidenz von 5 und weniger auf 10.000 Menschen definiert sind. Der Anteil pädiatrischer Malignome an allen Krebsdiagnosen liegt bei „nur“ rund einem Prozent. Trotz ihrer Seltenheit sind Malignome aber die häufigste krankheitsbedingte Todesursache im Kindes- und Jugendalter. Auch vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, pädiatrische Krebserkrankungen in den Blauen Büchern nicht länger „unter ferner liefen“ abzuhandeln, sondern sie mit einer eigenen Klassifikation stärker in den Fokus zu rücken.

Das bringt die neue Klassifikation konkret: Mitherausgeber Prof. Dr. Stefan Pfister über die Relevanz der Blue Books

Inwieweit kann die neue Klassifikation, die maßgeblich auf molekulargenetischen Tests beruht, die Patientenversorgung verbessern?
Prof. Dr. Stefan Pfister:
Molekulargenetische Analysen können sich unmittelbar auf die Therapiewahl auswirken. Bei Hirntumoren z.B. kommt es durch zusätzliche Anwendung gezielter molekulargenetischer Tests – sogenannter Methylierungs-Untersuchungen – bei 10–15 % der Patienten zu einer therapierelevanten Änderung der histologiegestützten Diagnose. Ein wichtiger Aspekt ist darüber hinaus die Risikostratifizierung. Mithilfe von Gentests lassen sich Tumoren mit unterschiedlicher Prognose differenzieren. Unter den Medulloblastomen etwa gibt es einen WNT-Typ, bei dem man die Dosis der Strahlentherapie deutlich reduzieren und trotzdem eine Heilung erreichen kann. Gerade bei pädia­trischen Krebserkrankungen ist es ja ein wichtiges Anliegen, Folgeschäden der Therapie zu minimieren. Sind denn molekulargenetische Tests in der pädiatrischen Onkologie bereits Standard?
Prof. Pfister:
Nein, wir sind erst auf dem Weg. Ganz wichtig ist, dass sich die behandelnden Ärzte über die molekularbiologischen Diagnosemöglichkeiten und deren Potenzial der Therapieoptimierung laufend fortbilden. Es gibt aber sicher nicht für jeden Gendefekt, den man nachweisen kann, auch eine spezifische Behandlung, oder? Wenn man die ohnehin seltenen Krebserkrankungen im Kindes- und Jugendalter immer weiter molekulargenetisch aufsplittet, bleiben am Ende ja nur sehr kleine Fallzahlen ...
Prof. Pfister:
Ja, das ist richtig. Die Seltenheit einzelner Gendefekte ist tatsächlich die größte Herausforderung in der Präzisionsonkologie sowohl mit Blick auf die Routineanwendung von Gentests als auch mit Blick auf die Entwicklung spezifischer Medikamente. Pädiatrische Krebserkrankungen sind für forschende Pharmaunternehmen kein attraktives Investitionsgebiet. Aber es gibt Hoffnung, weil seit einiger Zeit – erst in den USA und jetzt auch in Europa – Pharmaunternehmen mit innovativen Krebsmedikamenten auch Studien an Kindern durchführen müssen, falls die neuen Medikamente für pädiatrische Krebserkrankungen relevant sein könnten. Auch vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die systematische molekularbiologische Erforschung pädiatrischer Tumoren weiter voranzubringen, um jede Behandlung möglichst spezifisch auf die individuelle Erkrankung anpassen zu können.

Interview: Ulrike Viegener

Schwerpunkt auf international vernetzte Forschung setzen

Von der neuen Klassifikation erhoffen sich die Autoren wichtige Impulse sowohl für die aktuelle Patientenversorgung als auch für zukünftige Forschung. Angesichts der Seltenheit pädiatrischer Krebserkrankungen ist eine international vernetzte Forschung erforderlich. Nur so lassen sich Studien mit ausreichenden Patientenzahlen durchführen und – auf dem Boden molekularbiologischer Erkenntnisse – die Therapieoptionen für krebskranke Kinder und Jugendliche mit Blick auf Wirksamkeit und Verträglichkeit kontinuierlich verbessern.

Quellen:
1. Pfister S et al. Cancer Discovery 2022; DOI: 10.1158/2159-8290.CD-21-1094
2. Gröbner S et al. Nature 2018; 555: 321-327; DOI: 10.1038/nature25480

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Unter allen Krebsdiagnosen macht der Anteil von pädiatrischen Malignomen nur rund 1 % aus. Unter allen Krebsdiagnosen macht der Anteil von pädiatrischen Malignomen nur rund 1 % aus. © iStock/syntika