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Nicht alle Experten stehen dahinter
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Vier Schlüsselfragen zum Management der Multiplen Sklerose und zwei Expertengruppen, die unterschiedliche Antworten liefern: Es sind nicht viele, aber doch wesentliche Punkte, in denen es – Leitlinie hin oder her – wohl doch keinen Konsens gibt.
1. Wann sollten Patienten eine Therapie mit krankheitsmodifizierenden Medikamenten erhalten?
Ziel der MS-Therapie ist, Schub- bzw. in der MRT sichtbare Krankheitsaktivität zu verhindern und die Progression zu stoppen. Um das zu erreichen, kommt dem möglichst frühzeitigen Start der Behandlung eine große Bedeutung zu – darin sind sich die beiden Expertenguppen einig. Was aber bedeutet möglichst früh?
Welchen Verlauf eine MS nehmen wird, lässt sich im Einzelfall extrem schwer vorhersagen. Das gilt auch für die milden Verläufe, die selbst nach Jahrzehnten zu keiner klinisch relevanten Behinderung führen, schreiben Professor Dr. Heinz Wiendl, Universitätsklinik Münster, und seine Kollegen von der Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG).1 Zuverlässige und allgemein akzeptierte Prädiktoren gebe es nicht. Um keinerlei Schub- und Progressionsrisiko einzugehen, plädieren sie dafür, jede MS zu behandeln, sobald die Diagnose gestellt ist. Nur bei sehr niedriger Läsionslast und kompletter Remission von milden klinischen Symptomen könne man sich im Einzelfall zunächst auf regelmäßige klinische und MRT-Kontrollen beschränken.
Die Expertengruppe um Privatdozent Dr. Antonios Bayas vom Universitätsklinikum Augsburg – alles Mitautoren der Leitlinie – sehen das ähnlich.2 Abhängig von Schwere der ersten Episode, Rückbildungcharakteristika, Läsionslast und -aktivität in der MRT sowie Liquorparametern halten sie es in seltenen Fällen für erwägenswert, den Patienten zunächst nur engmaschig zu kontrollieren.
Bei einem Schub, der die Kriterien der räumlichen und zeitlichen Dissemination nicht erfüllt und somit keine CIS- bzw. RRMS-Diagnose rechtfertig, besteht ihrer Ansicht nach nur in Ausnahmefällen die Indikation zur Therapie. Dies sei z.B. bei der isolierten Optikusneuritis oder Myelitis der Fall.
Prof. Wiendl und seine Kollegen widersprechen. Geht es nach ihnen, sollten alle CIS-Patienten unabhängig von den Disseminationskriterien eine Immuntherapie angeboten bekommen, vorausgesetzt mögliche Differenzialdiagnosen sind ausgeschlossen. Bei hoher Läsionslast und/oder infratentoriellen Läsionen in der MRT solle die Immuntherapie auf jeden Fall erfolgen, ggf. sogar mit hochaktiven Medikamenten. Allein bei isolierter Optikusneuritis ohne weitere ZNS-Beteiligung in der MRT kann nach Auffassung der MSTCG das alleinige Monitoring eine Option sein, die man mit dem Betroffenen diskutieren muss.
2. Welche MS-Medikamente sind wann indiziert?
Da die Zahl der Immuntherapeutika inzwischen stark gewachsen ist, hat sich das DGN-Leitlinien-Komitee dazu entschlossen, die Substanzen anhand ihrer antiinflammatorischen Effizienz in drei Kategorien einzuteilen:
- Beta-Interferone einschl. PEG-Interferon, Dimethylfumarat, Glatirameroide und Teriflunomid bilden die Kategorie 1. Im Vergleich zu Placebo erreichen sie eine relative Reduktion der Schubfrequenz um 30–50 %.
- Cladribin, Fingolimod und Ozanimod wurden der Kategorie 2 zugeordnet. Sie haben eine relative Reduktion der Schubrate um 50–60 % gezeigt.
- In Kategorie 3 gehören Substanzen, welche die Schubfrequenz im Vergleich zu Placebo relativ um > 60 % und im Vergleich zu Substanzen der Kategorie 1 um > 40 % senken. Dies trifft zu auf Alemtuzumab, die CD20-Antikörper Ocrelizumab und Rituximab sowie auf Natalizumab.
Die MSTCG hält solch eine Einteilung für wissenschaftlich fragwürdig. Die substanzspezifischen Daten zur prozentualen Schubratenreduktion seien in unterschiedlichen Kollektiven gewonnen worden und damit nicht vergleichbar. Auch die Devise, außer bei hochaktiver MS mit Substanzen der Kategorie 1 zu starten und ggf. zu eskalieren, halten sie für falsch.
Diese Strategie lasse die Erkenntnis unberücksichtigt, wonach nicht nur der Zeitpunkt des Therapiebeginns (so früh wie möglich), sondern auch die Effektivität der Medikamente das Langzeit-Outcome beeinflusse. Ob das Hit-hard-and-early-Konzept tatsächlich aufgehe, müssten kontrollierte Studien zwar noch beweisen. Retrospektive Registerstudien würden aber darauf hindeuten, dass Behinderungsprogression und der Übergang in eine SPMS durch die aggressivere Therapiestrategie verzögert werden könnten.
3. Wann darf die krankheitsmodifizierende Therapie beendet werden?
Diese Frage stellt sich bei MS-Patienten, die unter einer Therapie seit Jahren klinisch und radiologisch stabil sind. Eine klare Antwort hat man mangels Daten bisher aber nicht, schreiben Dr. Bayas und Kollegen. In der Leitlinie gibt es deshalb auch nur eine schwache Empfehlung zum Therapiestopp bei Patienten mit initial mildem MS-Verlauf, die unter einer Therapie mit Medikamenten der Kategorie 1 über fünf Jahre keinerlei Krankheitsaktivität entwickelt haben. Die Patienten müssen darüber informiert werden, dass dieses Vorgehen nicht evidenzbasiert ist und sie sich regelmäßig Kontrolluntersuchungen unterziehen müssen. Ein Absetzen von Medikamenten der Kategorie 2 oder 3 ohne adäquaten Ersatz ist für die Autoren der DGN-Leitlinie keine Option.
Die MSTCG plädiert in jedem Fall für ein konsequentes Fortsetzen der Immuntherapie, sofern die Medikation gut vertragen wird und keine Sicherheitsbedenken auftauchen.
4. Wie stark sollten Zulassungsaspekte in den Therapieempfehlungen berücksichtigt werden?
Off-Label-Use ist für die Autoren der DGN-Leitlinie kein No-Go, da z.B. für manche MS-Symptome – Tremor, Ataxie, Nystagmus oder Blasendysfunktion – keine zugelassenen Optionen zur Verfügung stehen.
Die Anti-CD20-Antikörper Ocrelizumab und Rituximab führen sie gleichberechtigt in der Kategorie 3 auf, obwohl nur Ocrelizumab für die Indikation MS zugelassen ist. Die wichtigen pharmakologischen Eigenschaften der beiden Substanzen sind nahezu identisch, große Kohortenstudien haben die langfristige Wirksamkeit von Rituximab gezeigt und schon in der Prä-Ocrelizumab-Ära wurde Rituximab in den spezialisierten Kliniken häufig eingesetzt, lautet die Argumentation der Leitlinienautoren.
Die MSTCG beharrt hingegen darauf, dass sich Therapieempfehlungen auf dem Boden der Zulassungen bewegen sollten. Gute Erfahrungen mit Rituximab dürften den Ergebnissen aus Phase-3-Studien zu Wirksamkeit und Sicherheit von Ocrelizumab und Ofatumumab (ebenfalls ein CD20-Antikörper) nicht gleichgesetzt werden.
Quellen:
1. Wiendl H et al. Neurological Research and Practice 2021; DOI: 10.1186/s42466-021-00140-1
2. Bayas A et al. Neurological Research and Practice 2021; DOI: 10.1186/s42466-021-00139-8
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