Wenn die Studienlage nicht schlüssig ist

EAU 2022 Mascha Pömmerl

Michelangelo hat mit „David“ um 1500 die erste Monumental­statue der Hochrenaissance geschaffen. Damals herrschten andere Medizindebatten. Michelangelo hat mit „David“ um 1500 die erste Monumental­statue der Hochrenaissance geschaffen. Damals herrschten andere Medizindebatten. © minoandriani – stock.adobe.com

Aufgrund schwacher oder kontroverser Evidenz schaffen es Expert:innen in Leitlinien nicht immer, eindeutige Empfehlungen auszusprechen. Genau solchen Fällen  widmeten sich beim EAU-Kongress vier Ärzte. 

Ein strittiges Thema ist die Intensität der Überwachung von Patienten mit Hodenkarzinom im Stadium 1 nach kurativer Orchiektomie. Keimzelltumoren des Hodens haben eine sehr gute Prognose, werden Rezidive jedoch zu spät erkannt, sinken die Chancen einer kurativen adjuvanten Therapie deutlich. Ein Standard für Männer mit einem Seminom im nicht-metastasierten klinischen Stadium I (cSI) ist die Überwachung mittels regelmäßiger CT

Ein Problem der Active Surveillance nach Orchiektomie sei aber der Loss to Follow-up, erklärte Dr. Florian Janisch, Klinik und Poliklinik für Urologie am UKE, Hamburg-Eppendorf. „Wir können diese Patienten heilen, aber sie müssen zu den Nachsorge­terminen erscheinen.“ Aus diesem Grund sollte früh eine feste Nachsorge-Routine etabliert werden. 

„Weniger Bildgebung ist im Stadium I sicher“

Die meisten Rezidive treten bei nicht-seminomatösen Keimzelltumoren im cSI in den ers­ten beiden Jahren und bei Seminomen im cSI innerhalb von drei Jahren nach der Operation auf, es gebe aber durchaus Fälle von Rezidiven, die sich später entwickeln, warnte Dr. ­Janisch. Insbesondere bei Nicht-Seminomen ohne lymphovaskuläre Invasion (LVI-negativ) und bei Seminomen. Die meisten Rezidive werden mit Bildgebung entdeckt. 

Eine MRT sei zu bevorzugen, erklärte der Arzt. Bei CT sollte auf die Reduktion der Strahlenbelastung geachtet werden. Im Falle von Seminomen könnten Patienten mit Rete-testis-Infiltration und großen Tumoren über 4 cm von einer engmaschigen Nachbeobachtung profitieren. Männern hilft außerdem auf psychologischer Ebene eine engmaschige Nachbeobachtung, so die Erfahrung von Dr. Janisch.­

Für eine weniger intensive Beob­achtung sprach sich Prof. Dr. Jan Oldenburg von der Universität Oslo aus. Seit 1980 empfehle das Princess Margaret Cancer Centre, Toronto, für Patienten mit Hodenkarzinomen im cSI die aktive Überwachung nach Orchiektomie. Dabei wurde die Intensität der Überwachung kontinuierlich reduziert und seit 2011 werden nur noch Niedrigdosis-CT ohne Kontrastmittel eingesetzt. Trotz dieser Deeskalation wurde im Falle von Rezidiven weder eine Zunahme des Ausmaßes des Krankheitsrückfalls noch der notwendigen Therapie oder der tumorassoziierten Todesfälle beobachtet.1 Prof. ­Oldenburgs Fazit: „Bei Seminomen und Nicht-Seminomen verschlechterte sich die Prognose durch die reduzierte Überwachung im Falle eines Rezidivs nicht. Die Botschaft ist klar: Bei Hodenkarzinomen im Stadium I kann die Überwachung mittels Bildgebung (CT) sicher reduziert werden.“

Er führte eine weitere, ganz aktuelle Studie an: In der Phase-3-Nicht-Unterlegenheitsstudie TRISST erhielten 669 Männer mit einem Seminom im cSI nach Orchiektomie in vier Studienarmen zur Nachbe­obachtung entweder sieben CT oder sieben MRT oder nur drei CT oder drei MRT.2 Nach einer medianen Beobachtungszeit von 72 Monaten waren bei 12 % Rezidive aufgetreten. Bei drei CT hatten 2,8 % der Männer Rezidive, nach sieben CT 0,3 %; der Unterschied war aber nicht signifikant. Nur vier der neun aufgetretenen Rückfälle hätten früher entdeckt werden können, wenn sieben statt drei Scans durchgeführt worden wären. 

Außerdem belegte die Studie die Nicht-Unterlegenheit von MRT gegenüber CT. Das Fünf-Jahres-Überleben lag bei 99 %. Zu empfehlen sei also das Schema mit drei MRT, erklärte Prof. Oldenburg, es bringe keine Strahlenexposition mit sich und Rezidive wurden etwas früher entdeckt als mit CT. Als möglichen Biomarker für Rezidive von Keimzelltumoren nannte er die Mikro-RNA miR371, was zwar die Bildgebung nicht ersetzen, aber deren Häufigkeit reduzieren und das Timing verbessern könne.3

Penistumoren bilden vor dem Auftreten von Fernmetastasen Lymphknotenmetastasen. Sind die Sentinel-Lymphknoten in der Leiste oder sogar die Beckenlymphknoten befallen, können Patienten mit einer primären OP nicht mehr geheilt werden und die Überlebensraten verschlechtern sich rapide. Das Management der Lymphknotenmetastasen bestimmt damit erheblich die Prognose. 

Für eine neoadjuvante Chemotherapie (NACT) bei Patienten mit N2–N3 Peniskarzinom sprach sich Prof. Dr. ­Andrea Necchi, Universität Vita-Salute San Raffaele, Mailand, aus. Eine Metaanalyse von 10 Studien, in denen Erkrankte eine neoadjuvante Kombinationschemotherapie (platinbasiert mit oder ohne Taxan) für ein lokal fortgeschrittenes Plattenepithelkarzinom des Penis erhalten hatten, ergab eine Gesamtansprechrate von 53 % und eine Rate an pathologischen Komplettremissionen von 16 %. Regime ohne Taxan waren besser verträglich.

„Nutzen-Schaden-Verhältnis bei N2-Tumoren kritisch“

In einer kleinen Studie führte Vinflunin bei 22 Männern mit inoperablem Peniskarzinom zu einer Clinical Benefit Rate von 45,5 %. Auch gebe es neue neoadjuvante Ansätze mit zielgerichteten (Anti-EGFR-)Substanzen und Checkpoint-Inhibitoren, sagte Prof. ­Necchi. So läuft derzeit die EPIC-Studie mit Cemiplimab.5

Weniger positiv blickte Prof. Dr. Chris Protzel, Klinik für Urologie, Helios Kliniken Schwerin, auf die Studiendaten zur NACT: „Viele Patienten sprechen nicht auf die Chemotherapie an. Und auch bei guten Ansprechraten sind die Überlebensdaten enttäuschend.“ Außerdem verwies er auf die teils erhebliche Toxizität der NACT. Aus diesem Grund sei die Bewertung des Nutzen-Schaden-Verhältnisses wichtig. Im Hinblick auf N3-Tumoren sei dieses akzeptabel, bei N2 aber kritisch. 

Zwar gebe es Ansätze, molekulare Biomarker zu identifizieren, die prädiktiv für das Ansprechen auf die Chemotherapie sind, es würden aber bessere Daten aus prospektiven klinischen Studien benötigt. Mit Spannung erwartet werden die Daten der InPACT-Studie (NCT02305654), die u.a. die Frage klären sollen, ob die NACT bei Männern mit palpablen Lymphknoten oder -metastasen in der Bildgebung einen Stellenwert hat und wenn ja, ob eine Chemo- oder eine Radiochemotherapie eingesetzt werden sollte. Die NACT sei eine Option, die Patientenselektion wichtig, die Datenlage aber derzeit ungenügend, so Prof. Protzel abschließend. Eine klare Indikation für die NACT bestehe bei großen und fixierten Lymphknotenmetastasen.

1. Gariscsak PJ et al. Eur Urol Open Sci 2022; 40: 46-53; DOI: 10.1016/j.euros.2022.03.010
2. Joffe JK et al. J Clin Oncol 2022; 40: 2468-2478; DOI: 10.1200/JCO.21.01199
3. Nappi L et al. J Clin Oncol 2019; 37: 3090-98; DOI: 10.1200/JCO.18.02057
4. Azizi M et al. J Urol 2020; 203: 1147-55; DOI: 10.1097/JU.0000000000000746
5. Renninson E et al. 2022 ASCO Annual Meeting, TPS 5094
6. Necchi A et al. Eur Urol Focus 2018;4: 733-36; DOI: 10.1016/j.euf.2016.08.001

Quelle: Janisch F, Oldenburg J, Necchi A, Protzel C. 37. Annual EAU Congress; Controversies on EAU Guidelines I

37. Annual EAU Congress

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Michelangelo hat mit „David“ um 1500 die erste Monumental­statue der Hochrenaissance geschaffen. Damals herrschten andere Medizindebatten. Michelangelo hat mit „David“ um 1500 die erste Monumental­statue der Hochrenaissance geschaffen. Damals herrschten andere Medizindebatten. © minoandriani – stock.adobe.com