Revisionsurteil Eigentor auf KBV-Seite
Im Mai 2020 schien die Welt noch in Ordnung: Da hatten sich KBV und GKV-Spitzenverband auf eine Aktualisierung der Rahmenvorgaben zur Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106b Absatz 2 SGB V für ärztlich verordnete Leistungen verständigt. Diese haben u.a. vorgesehen, dass Ärzte im Fall eines Arznei- oder Heilmittelregresses nicht mehr die gesamten Kosten einer unwirtschaftlichen oder unzulässigen Verordnung bezahlen müssen, sondern nur noch den Mehrbetrag zwischen der wirtschaftlichen und der tatsächlich verordneten Leistung.
Kein Jahr später kündigte der GKV-Spitzenverband diese Rahmenvorgaben aber schon wieder auf. Es gäbe Umsetzungsprobleme, weil die regionalen Krankenkassen sich – ungeachtet der eindeutigen gesetzlichen Vorgabe – weigern würden, die Rahmenvorgaben umzusetzen. Offensichtlich scheute man den Verwaltungsaufwand.
Gericht hat weiter eingegriffen als die KBV das wollte
Da sich die KBV in den anschließenden Verhandlungen weigerte, nur die aus Kassensicht kritischen Punkte wie die Berücksichtigung der Kostendifferenz und die Fristhemmung durch Antragstellung bei Anträgen auf Einzelfallprüfung neu zu verhandeln, hatte der GKV-Spitzenverband das Bundesschiedsamt angerufen. Und bei dieser Gelegenheit hat das Gericht auch bei weiteren Regelungen eingegriffen.
Während zuvor etwa offen war, bei welchen Regressforderungen die Kostendifferenz-Regelung gilt, hat das Gericht nun entschieden, dass dies nur zulässig ist, „wenn die in Rede stehende Verordnung unwirtschaftlich und nicht unzulässig und somit von der Leistungspflicht der GKV ausgeschlossen ist.“
Damit ist plötzlich höchstrichterlich festgelegt, dass die Differenzschadensmethode bei Verordnungen, die durch gesetzliche oder untergesetzliche Regelungen ausgeschlossen sind, nicht zur Anwendung kommt. Ein klassisches Eigentor: Während man zuvor noch hätte vereinbaren können, dass die Berücksichtigung einer Kostendifferenz nur dann nicht vorzunehmen ist, wenn die in Rede stehende Verordnung nicht bereits durch § 34 SGB V oder nach Anlage 1 der Heilmittel-Richtlinie ausgeschlossen ist und die Voraussetzungen nach § 12 Abs. 11 Arzneimittel-Richtlinie nicht vorliegen, gilt das jetzt nur noch bei zulässigen, aber als unwirtschaftlich eingestuften Verordnungen.
Es eröffnet sich so also neuer Interpretationsspielraum z.B. auch bei der Verordnung von Arzneimitteln im Off-Label-Use oder von Arzneimitteln, die durch die Anlage III der Arzneimittel-Richtlinie nicht oder nur eingeschränkt verordnet werden dürfen. Und dort schlummert eine ganze Reihe von Fallstricken.
Zum Beispiel werden häufig, um die Compliance bei Multimedikation zu gewährleisten, Analgetika, Antiphlogistika oder Antirheumatika in fixer Kombination mit Protonenpumpenhemmern (PPI) kombiniert verordnet, um gefährliche Nebenwirkungen auf den Magen-Darm-Trakt durch die notwendige Dauertherapie zu vermeiden oder zu verhindern. Zulässig ist aber nur die Kombination von nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAR) mit einem PPI bei Patienten mit hohem gastroduodenalem Risiko, bei denen die Behandlung mit niedrigeren Dosen des NSAR und/oder PPI nicht ausreichend ist. Die Kombination von PPI mit einem Steroid (z.B. bei einem Rheumapatienten) oder ASS (z.B. bei KHK-Patienten nach Stentimplantation) wird ausdrücklich nicht erwähnt und könnte damit (legitimer) Anlass für einen Einzelregressantrag der Krankenkassen sein.
Auch „versteckte“ Ausschlüsse wie das Verordnungsverbot von schnell oder lang wirkenden Insulinanaloga zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2 könnten wieder für Einzelregressforderungen der Kassen sorgen. Nach Anlage III der Arzneimittel-Richtlinie sind die nämlich immer noch nur verordnungsfähig, solange sie nicht mit Mehrkosten im Vergleich zu schnell wirkendem Humaninsulin verbunden sind oder eine Allergie gegen Humaninsulin vorliegt bzw. wenn im Rahmen einer intensivierten Insulintherapie auch nach individueller Therapiezielüberprüfung und Anpassung des Ausmaßes der Blutzuckersenkung in Einzelfällen ein hohes Risiko für schwere Hypoglykämien bestehen bleibt. Auch hier kann nach dem Urteil des Bundessozialgerichts der volle Regressbetrag eingefordert werden – und nicht nur die Mehrkosten.
Auch Fristenregelung hat sich verschlechtert
Und der Fristenregelung hat die Überarbeitung ebenfalls nicht gutgetan: Nach der aktuellen Gesetzesvorgabe müssen Krankenkassen ihre Regressanträge innerhalb von zwei Jahren stellen. Das Bundesschiedsamt hat entschieden, dass die Festsetzung einer Nachforderung oder einer Kürzung aufgrund einer Wirtschaftlichkeitsprüfung, die von Amts wegen durchzuführen ist, für verordnete Leistungen innerhalb von zwei Jahren ab dem Schluss des Kalenderjahres, in dem die Leistungen verordnet worden sind, erfolgen muss.
Damit hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung die ursprüngliche Formulierung verloren, wonach die Prüffrist von zwei Jahren auch dann gilt, wenn als Maßnahme „lediglich“ eine Beratung festgesetzt wird bzw. festgesetzt werden kann. Schlimmer noch: Auch die Regelung, dass die Mitteilung einer Prüfungsstelle an den Arzt über die Durchführung einer Wirtschaftlichkeitsprüfung die Prüffrist von zwei Jahren hemmt, wird nun durch das Urteil des Bundessozialgerichts bestätigt.
Fazit: Die Gefahr von Arzneimittelregressen ist deutlich gestiegen. Um bei Verordnungen z.B. einen Einzelregress zu vermeiden, sollte man künftig die einschlägigen Bestimmungen der Arzneimittelrichtlinie zu ausgeschlossenen oder teilweise ausgeschlossenen Verordnungen genau kennen.
Hinzu kommt: Wer eine Arzneimittelrichtgröße oder einen Fachgruppendurchschnitt überschreitet, kann auch viele Jahre später noch in ein Regressverfahren verwickelt werden. Das hat zwar zunächst in einer Beratung zu enden, die darauffolgende Verordnungsphase muss sich dann aber strikt an dieser Beratung orientieren. Vorbauen kann man, indem man beispielsweise bei der Verordnung von im Einzelfall verordnungsfähigen Kombinationsmedikamenten bereits im Vorfeld auf eine schlüssige Begründung in der Diagnose achtet und bei unklarer Verordnungsfähigkeit eines Medikaments eher zum Privatrezept greift.