Digitale Kodierhilfe Nachteile statt Unterstützung
Die KBV hat einen gesetzlichen Auftrag aus dem Terminservice- und Versorgungsgesetz umgesetzt und zum 1. Januar 2022 verbindliche Vorgaben für die Vergabe und Übermittlung von Diagnoseschlüsseln festgelegt. Die Maßnahme soll die Arbeit erleichtern, insbesondere aber auch die Kodierungstiefe verbessern, um das Ergebnis der jährlichen Neufestsetzung der Veränderungsraten bei der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung zu schärfen.
Die Voraussetzungen für eine umfassende Kodierunterstützung in den Praxisverwaltungssystemen (PVS) wurden definiert und zum Gegenstand der KBV-Zertifizierungen der Software gemacht. Allerdings zeichnete sich schnell ab, dass nicht alle Hersteller den gesetzlichen Einführungstermin einhalten können. Praxen, deren Software-Hersteller die Kodierunterstützung nicht zeitgerecht umsetzen konnten, sind daher bis zum 30. Juni 2022 rechtssicher von der Anwendung befreit. Sie dürfen die bisherigen Vorgaben und Regelungen weiter verwenden, bis ein Update bereitsteht. Praxen, deren PVS-Anbieter die Anwendung der Kodierunterstützung fristgerecht umgesetzt haben, müssen sie allerdings seit dem 1. Januar anwenden.
Was kann der digitale Helfer?
Die neue zentrale Funktion ist ein sog. Kodiercheck zur „Plausibilisierung“ von gewählten Codes, der im Hintergrund des PVS läuft. Neben der ICD-10-GM ist künftig auch die Verschlüsselungsanleitung, herausgegeben vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, in die Praxissoftware eingebunden. Bewährte Funktionen wie die Codesuche und die Kennzeichnung von Dauerdiagnosen wurden überarbeitet und stehen weiter für alle Diagnosebereiche bereit.
Der Kodiercheck startet zunächst in vier Diagnosebereichen mit hohen Fallzahlen und komplexer Kodierung: Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes mellitus und Folgen des Bluthochdrucks. Wenn ein Code aus diesen Diagnosebereichen eingegeben wird, beginnt das Kodierregelwerk automatisch mit der Prüfung. Passt etwas nicht, gibt es beispielsweise den Hinweis, dass ein spezifischer ICD-10-GM-Code vorhanden ist, und bietet ihn direkt zur Auswahl an.
Der Anwender kann diesen Schlüssel übernehmen oder ablehnen. Soll der Hinweis bei diesem Fall im selben Quartal nicht noch einmal angezeigt werden, kann er deaktiviert werden. Die Software ist so voreingestellt, dass der Kodiercheck direkt mitläuft. Wird das nicht gewünscht, kann die Einstellung so angepasst werden, dass die Überprüfung erst bei der (Test-)Abrechnung erfolgt. Praxisinhaber erhalten dann eine Übersicht mit allen Behandlungsfällen und den entsprechenden Hinweisen angezeigt, und die Fälle können am Quartalsende einzeln bearbeitet werden.
Die Funktion, Behandlungsdiagnosen eines Quartals so zu kennzeichnen, dass sie auch in den Folgequartalen automatisch in die Abrechnungsunterlagen übernommen werden können, bleibt nach Angabe der KBV erhalten. Neu ist, dass diese Funktion künftig auch für anamnestische Diagnosen bereitsteht. Bevor Praxen „Dauerdiagnosen“ oder „anamnestische Diagnosen“ in die Abrechnung übernehmen, sollte allerdings eine Prüfung erfolgen, ob diese dauerhaft für die Behandlung relevant sind: Weil der Diabetes mellitus eines Patienten beispielsweise regelhaft Anlass zur Behandlung ist, wäre er eine klassische Dauerdiagnose. Eine Arzneimittelallergie hingegen hat ein Patient zwar dauerhaft, sie führt aber in der Regel nur sporadisch zu einem Behandlungsaufwand. Für die ärztliche Entscheidung ist sie deshalb allenfalls bei der Verordnung eines Medikamentes wichtig und sollte daher als anamnestische Diagnose gekennzeichnet werden.
Eine zusätzliche Funktion bietet die Kodierunterstützung speziell für den „akuten Herzinfarkt“ und den „akuten Schlaganfall“. Sollen die entsprechenden Codes mit dem Zusatzkennzeichen „G“ für gesichert als Dauerdiagnose neu abgespeichert werden, erhält der Anwender einen Hinweis. Denn akute Diagnosen sind in aller Regel als Dauerdiagnosen ungeeignet, und für den Herzinfarkt und Schlaganfall sieht die ICD-10-GM spezifische Codes für die dauerhafte Schädigung und Behandlung vor.
Kommt das bekannt vor?
Was die KBV bei ihrer Ankündigung „unter den Tisch fallen lässt“: Diese Maßnahme hat eine lange Vorgeschichte. Ursprünglich hatte die KBV unter dem damaligen Vorsitzenden Dr. Andreas Köhler versucht, eine eigene Kodierhilfe verpflichtend im vertragsärztlichen Bereich einzuführen. Die dafür gewählte Abkürzung „AKR“ wurde deshalb auch als „Andreas-Köhler-Richtlinie“ bezeichnet. Eine massive berufspolitische Intervention konnte deren Einführung damals verhindern.
Das führte allerdings zu einer denkwürdigen Gegenreaktion. Da die Kodiertiefe auch für die Zuteilung der Gelder an die einzelnen Kassen aus dem Finanzausgleich (RSA) eine wichtige Rolle spielt, hatten einige Kassen mit KVen und einigen Berufsverbänden Sonderverträge ausgehandelt, die ein Honorar für ein sog. „Right Coding“ zum Gegenstand hatten.
Auf Intervention einer großen Ersatzkasse wurde dieses „Fangprämienprinzip“ gesetzlich verboten und stattdessen die Einführung von Kodierrichtlinien im Terminservice- und Versorgungsgesetz vorgeschrieben. Die jetzige Einführung dieser Kodierhilfen im PVS ist so gesehen eine Art Renaissance dieser AKR, allerdings mit dem scheinbaren Unterschied, dass deren Anwendung freiwillig ist. Inwieweit eine solche Freiwilligkeit bei einer (Zwangs-)Integration in das PVS tatsächlich gewährleistet ist, wird die Umsetzung zeigen.
Fazit
Die Kodierunterstützung führt bei der Quartalsabrechnung zu mehr bürokratischem Aufwand, denn man kann sie nicht grundsätzlich vermeiden. Was nämlich nur zwischen den Zeilen steht, ist die heimliche Auswirkung auf die Kodierungstiefe. Eigenmächtige Entscheidungen über die Art der Kodierung und deren Auswirkung auf das Abrechnungsergebnis sind künftig kaum noch möglich. Man kann die Kodierempfehlungen zwar ignorieren, muss sich z.B. im Falle von Prüfmaßnahmen aber fragen lassen, warum man das gemacht hat.
Medical-Tribune-Bericht