Diabetes-Technologie Die Marktlage gestaltet die Entwicklung und Einführung neuer Produkte schwierig
Bei einem Workshop zum Thema AID-Systeme, der vor einigen Wochen vom National Institute of Health (NIH) in Washington DC, USA, durchgeführt wurde, gab es einen engagierten und pointierten Vortrag zum Stand der Dinge bei AID-Systemen aus Sicht des Referenten Lane Desborough. Dieser ist Ingenieur und hat sich aus persönlichem Antrieb (sein Sohn hat Typ-1-Diabetes) intensiv mit diversen Themen bei der Diabetes-Therapie beschäftigt. Desborough hält in diesem Zusammenhang auch eine Reihe von Patenten. Er war bei Bigfoot Biomedical tätig und hat heute eine eigene kleine Firma, die sich mit AID-Algorithmen beschäftigt (Nudge BG).
Entwicklung neuer Systeme ist durch Marktlage schwierig
Erklärtes Ziel des Redners ist, eine bessere Verfügbarkeit von einfach zu nutzenden und sicheren AID-Systemen zu erreichen. Deshalb widerspricht der eher kritische Tenor seiner Aussagen, die im Folgenden wiedergegeben werden, vermutlich dem Eindruck, den viele uns von der aktuellen Situation von AID-Systemen haben. Aktuell war es noch nie so schwierig, eine neue Insulinpumpe, ein neues CGM- oder gar ein neues AID-System auf den US-amerikanischen Markt zu bringen – insbesondere wenn Entwickler und Hersteller auf diesem Markt noch nicht vertreten sind. So gibt es beispielsweise erhebliche Probleme bei der Beschaffung von Kapital, denn die Bereitschaft von Venture-Capital-Gebern hier zu investieren, hat massiv nachgelassen. Dies führt auch dazu, dass selbst bei großen Herstellern Mitarbeiter entlassen werden.
AID-Komponenten: Zwei „Tripole“ dominieren US-Markt
Während sich bis vor wenigen Jahren noch etwa 18 AID-Systeme in frühen Stadien der klinischen Entwicklung befanden, sind nur noch wenige davon in Phase-3-Studien. In den letzten sieben Jahren haben ganze drei davon den Weg zur kommerziellen Zulassung geschafft. Bei den Insulinpumpen sieht es ähnlich aus, auch hier sind weniger Hersteller in den USA tätig als noch vor 10 Jahren. Insgesamt führt diese Situation dazu, dass zwei „Tripole“ den US-Markt für CGM-Systeme und Insulinpumpen beherrschen. Medtronic Diabetes ist das einzige Unternehmen, welches alle drei Komponenten anbietet, die für AID-Systeme gebraucht werden: CGM-System, Algorithmus und Pumpe. Andere Hersteller, die in diesen Markt einsteigen wollen, integrieren entweder Komponenten von den großen Herstellern zu einem AID-System oder liefern selber diese Komponenten. In der Vergangenheit waren Hersteller noch an einer Zusammenarbeit mit innovativen kleinen Firmen/Start-ups interessiert; heute wollen oder müssen sie dies nicht mehr, was es für neue Ideen schwer macht, hier einen Platz zu finden.
Extrem wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass die Komponenten interoperabel sein müssen. Wenn man sich auf interoperable Komponenten beschränkt, handelt es sich weltweit (USA und Europa) um ein „Duopol“ bei den CGM-Systemen (Dexcom und Abbott) und ein Tripol bei den Insulinpumpen (Insulet ,Tandem und Ypsomed). In Wirklichkeit handelt es sich bei deren Geräten aber nicht um interoperable, sondern um kompatible Systeme. Es gibt technische und kommerzielle Vereinbarungen zwischen zwei Unternehmen, die proprietäre, maßgeschneiderte und von der FDA abgesegnete Schnittstellen verwenden.
Fairere Standards für Interoperabilität gefordert
Der Redner wies darauf hin, dass Patienten mit Diabetes oder neue Hersteller keinen sicheren Echtzeit-Zugang zu den Komponenten haben, die von den etablierten Herstellern angeboten werden – es sei denn, sie hacken diese. Die FDA sollte von den Herstellern verlangen, Vorgehensweisen zu entwickeln, wie ihr Gerät auf sichere und vor allem standardisierte Weise mit anderen Geräten, z.B. mit einem Steuergerät eines anderen Herstellers, kommunizieren kann. Es gibt eine Reihe von allgemeinen Standards zur Interoperabilität und Cybersicherheit, z.B. für Smartphone-Apps die Bluetooth SIG-Implementierung von IEEE 11073. Hersteller von CGM-Systemen sollten also nicht die Cybersicherheit als Grund angeben können, um Patienten mit Diabetes oder andere Hersteller an Nutzung ihrer eigenen Daten zu hindern.
In den USA hat die dort zuständige Zulassungsbehörde die Entwicklung von AID-Systemen erheblich unterstützt. So gibt es schon seit 2014 ein Interoperabilitätskonzept für AID-Systeme mit dem Ziel, eine größere Austauschbarkeit und damit Auswahl zwischen den verschiedenen Gerätekomponenten zu erreichen. In der Praxis hat sich dies aber (bisher) nicht so durchgesetzt wie intendiert – die Nutzer haben nicht wirklich mehr Flexibilität bei der Wahl der AID-Komponenten. Viele der zahlreichen Dokumente der FDA, die für AID-Systeme gelten, werden wenig verwendet, sind veraltet oder noch im Entwurfsstadium. Dies führt zu Unklarheiten sowie Verzögerungen und begünstigt etablierte Unternehmen. Eine Aktualisierung und Harmonisierung der Vorgaben würde insbesondere neuen Herstellern zugutekommen.
ADA-Vorgaben führen zu einem Henne-Ei-Problem
Schaut man neben den „Integrated CGM (iCGM)“-Systemen und den „Alternate Controller Enabled (ACE)“-Insulinpumpen insbesondere auf die „Interoperable Automated Glycemic Controller (iAGC)“-Algorithmen, charakterisieren die Vorgaben der FDA zwar die Komponenten, nicht aber deren Kontroll-Interaktionen, so dass die Sicherheit und Wirksamkeit eines neu zusammengestellten AID-Systems erst dann bewertet werden kann, wenn die Komponenten für die Integration konkret zur Verfügung stehen. Hierdurch entsteht ein Henne-Ei-Problem und dies ist ein Grund dafür, dass die Zahl der AID-Systeme nicht wirklich angestiegen ist – FDA-zugelassene ACE-Pumpen, iCGMs und iAGCs sind keine „Plug and Play“-Lösungen.
Dabei macht der eigentliche AID-Algorithmus – das Herzstück eines AID-Systems – ca. 0,5 % des Codes eines iAGCs aus; ein paar hundert Zeilen wichtiger Codes in einem riesigen Computerprogramm. Kommerzielle AID-Systeme vermeiden eigenständige iAGCs und betten ihre Algorithmen direkt in die Pumpen-Firmware ein.* Dabei ist der Steuerungsalgorithmus das Einzige, was ein AID-System von einer sensorunterstützten Insulinpumpe unterscheidet. Die Einbettung von AID-Algorithmen in der Software ist nicht trivial, wobei die FDA den Herstellern nicht sagen kann, wie sie dies tun sollen. Aber sie kann ihnen sagen, wie sie nicht tun sollen. Wenn es Probleme gibt, z.B. bei der Cybersicherheit, dann kann es eine Verzögerung der Zulassung von sechs Monaten bedeuten, was der Todesstoß für neue Marktteilnehmer sein kann, weil deren Finanzierung nicht so lange reicht.
Dies macht die kürzlich erfolgte Zulassung des Algorithmus einer Non-Profit-Organisation wie Tidepool durch die FDA so beachtlich, wobei das Genehmigungsverfahren auch Jahre gedauert hat. Dieser Anbieter will den gesamten Code zu seinem Algorithmus öffentlich machen.
Verzögerungen durch Pandemie und deren Auswirkungen
In den letzten Jahren hat die FDA viele ihrer Ressourcen für die Handhabung der Coronapandemie einsetzen müssen. Dies hat die Zulassungsfristen für AID-Systeme zum Teil deutlich verlängert, aber auch zu Burnout bei den FDA-Mitarbeitern geführt und einer erheblichen Fluktuation von Mitarbeitern. Diejenigen, die heute solche Anträge bearbeiten, haben teilweise erhebliche Qualifikations- und Kenntnislücken. So sind ultraschnell-wirkende Insuline wie FIASP und Lyumjev in den USA für aktuelle Insulinpumpen noch nicht zugelassen und die AID-Algorithmen wurden nicht optimiert, um deren verbesserte pharmakologischen Eigenschaften zu nutzen. AID-Systeme mit ihren vielen verschiedenen Aspekten sind aus regulatorischer Sicht eine komplexe Welt. Eine Aufwertung von Diabetes-Medizinprodukten in einem FDA-Kompetenzzentrum würde hier deutlich helfen.
Kostensituation bevorzugt die großen Hersteller
Wie hoch sind die Kosten, um ein neues Produkt zu entwickeln und in den Markt zu bringen? Schätzungen gehen von 250 bis 600 Mio. Dollar aus, um eine Insulinpumpe auf den US-Markt zu bringen, 250 Mio. bis 1 Mrd. Dollar für ein CGM-System und 25 bis 50 Mio. Dollar für einen zugelassenen AID-Algorithmus. Dies sind Summen, die nur von großen Firmen aufgebracht werden können. Kleine Firmen haben praktisch nur die Chance eine Idee soweit zu entwickeln, bis sie von einer größeren Firma aufgekauft werden. Dabei wird das Entwicklungsniveau bewertet anhand des sogenannten Technology Readiness Levels (TRL), der in neun Stufen von der frühen Entwicklung bis hin zur Markteinführung die Entwicklung eines Produktes charakterisiert. Spannend ist hierbei, dass mehr als 85 % der Zeit, Kosten und des Risikos in den TRL 5 bis 9 auftreten und nicht im Bereich Forschung und frühe Entwicklung (s. Abb. 2). Die eigentliche Produktentwicklung inklusive klinische Studien und die Vorbereitung der Herstellungsprozesse sind dabei die Treiber.
Evidenz: mehr Orientierung an der Lebenswirklichkeit
Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass die derzeitigen AID-Systeme größtenteils für vergleichsweise wohlhabende, gebildete und sich um ihre Gesundheit kümmernde Menschen mit Typ-1-Diabetes entwickelt worden sind, die fast alle eine weiße Hautfarbe haben. Aussagen zur Sicherheit und Wirksamkeit von AID-Systemen beruhen derzeit weitgehend auf solchen Studienteilnehmern. Im Alltag der Patientenbehandlung müssen aber auch diejenigen Menschen behandelt werden, die nicht in Studien passen. Die derzeitigen Ansätze zur Gewinnung von Evidenz für die Nutzung von AID-Systemen ist somit in einer Reihe von Hinsichten nicht wirklich hilfreich.
Es gilt auch zu diskutieren, wie viel aus „Beobachtungsstudien“ (= Real-World-Evidenz) mit AID-Systemen gelernt werden kann: Sagen die Ergebnisse der Studien etwas zur Effektivität der Nutzung von AID-Systemen nach deren Markteinführung aus? In welchem Ausmaß hängt dies auch von dem Engagement/Know-how des Diabetes-Teams ab, welches die Patienten in der Praxis behandelt? Vielleicht wären die Ergebnisse bei Nutzung von AID-Systemen ja noch deutlich besser, wenn beide Gruppen von Menschen besser in der Nutzung der technischen Optionen geschult würden? Hier wäre es hilfreich, wenn die FDA mehr Augenmerk auf den Alltag der Nutzung von Medizinprodukten legen würde. Bei selbstfahrenden Autos wird ja auch genau evaluiert, wie viele Unfälle im Alltag der Nutzung von solchen modernen Produkten auftreten, warum nicht bei AID-Systemen? Ein AID-Register wäre dafür ausgesprochen hilfreich.
Fazit
Insgesamt betrachtet war dies ein Vortrag, der eine ganze Reihe von kritischen Aspekten berührt hat und deren Handhabung ist im Sinne der Patienten, die AID-Systeme nutzen wollen, von erheblicher Bedeutung.
Workshop des National Institute for Health (NIH), Washington D.C., USA
*Dies betrifft die in dem Vortrag genannten und in den USA erhältlichen Systeme von Medtronic, Tandem und Insulet. In Europa finden bzw. fanden die Algorithmen CAM APS FX (mit Ypsopump und Dana) und Diabeloop (in der Vergangenheit mit Accu-Chek Insight) Anwendung. Beide Algorithmen liefen als App auf dem SmartPhone und damit außerhalb der Pumpensoftware.