Kindeswohlgefährdung Jugendämter machen Informationsmöglichkeiten nicht ausreichend transparent
Nur ein Drittel der deutschen Jugendämter ist in der Lage, alle eingehenden Meldungen auf mögliche Kindeswohlgefährdungen aufzunehmen und zügig zu bearbeiten. Das zeigt die Studie „Licht ins Dunkel bringen“, initiiert von SOS-Kinderdörfer weltweit und Transparency International Deutschland. Zwei von drei befragten Behörden teilten mit, aus Personalmangel häufig nicht adäquat reagieren zu können, berichtet Lanna Idriss, Vorständin von SOS-Kinderdörfer weltweit.
Zudem machen es schwierige Meldewege ans Amt möglichen Whistleblowern schwer, Missstände mitzuteilen, sodass die Meldungen zum Teil gar nicht erst erfolgen. Die Studie zeige, wo Politik und Jugendämter ansetzen müssen, betont deshalb der Studienleiter Sebastian Oelrich.
Bei den Ämtern gehen jedes Jahr mehr Meldungen ein
62.000 Kindeswohlgefährdungen wurden laut Statistischem Bundesamt durch die Jugendämter 2022 registriert, 4 % mehr als im Jahr davor. 203 700 Hinweismeldungen wurden geprüft, bei denen der Verdacht auf eine mögliche Gefährdung von Kindern oder Jugendlichen im Raum stand, 3 % mehr als 2021. Auch langfristig ist ein Anstieg der Kindeswohlgefährdungen zu verzeichnen: Von 2012 bis 2022 betrug das Plus rund 24.000 Fälle bzw. 63 %.
Den Studienautoren ging es einerseits um eine Erhebung des Status quo bei Meldungen zur Kindeswohlgefährdung. Andererseits wollten sie herausfinden, wie die Meldewege wahrgenommen werden. Befragt wurden 140 Jugendämter.138 Fragebogen konnten ausgewertet werden. Ergänzend fand eine Befragung von Mitarbeitenden in den Einrichtungen (238) sowie Interviews mit Verantwortlichen (21) statt.
Das Fazit: Zwar scheinen alle Jugendämter Meldewege vorzuhalten – diese sind allerdings für Dritte oftmals nicht ersichtlich. Nur in 56 % der Einrichtungen war eine Meldemöglichkeit klar gegeben. Telefonisch erreichbar waren 51 % der Einrichtungen. Überwiegend gab es auch keinen Kontakt per Web, E-Mail, Fax oder Post. 62 % der Ämter waren ebenso nicht persönlich vor Ort ansprechbar. Vielfach erklären die Meldestellen auch nicht, was Kindeswohlgefährdung überhaupt bedeutet.
Gesetz zum Kinderschutz in Planung
Im Entwurf liegt zurzeit ein „Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ vor. Bundesfamilienministerin Lisa Paus will damit verbesserte Schutzstrukturen forcieren. Eine vom Parlament gewählte Unabhängige Bundesbeauftragte bzw. ein Unabhängiger Bundesbeauftragter soll mit einem Betroffenenrat und einer Unabhängigen Aufarbeitungskommission tätig werden. Die Bundesregierung soll regelmäßig über das Ausmaß sexuellen Kindesmissbrauchs und den aktuellen Stand zu Schutz, Hilfen, Forschung und Aufarbeitung unterrichtet werden. Vorgesehen sind zudem Schutzkonzepte für Kitas, Schulen und Jugendklubs.
Gibt es solche Hinweise, dann nicht immer in einer leicht verständlichen Sprache und Erklärungen finden sich erst auf Unterseiten der Amtshomepage. Außerdem seien Darstellung und Beschreibung oftmals irreführend oder negativ, monieren die Studienmacher. „Meldungen werden zum Teil negativ konnotiert oder es werden Meldeformen versprochen, die nicht existieren, wie beispielsweise Anonymität oder eine 24/7-Erreichbarkeit.“
Damit Kinder und Jugendliche besser geschützt werden und bei Verdacht auf Gefährdungen schnell und zielgerichtet eingriffen werden kann, fordern Transparency International und SOS Kinderdörfer:
- Gesetzliche Regelungen
- Mindeststandards für die Bearbeitung von Meldungen
- Sensibilisierung in der Gesellschaft und Schulung von Fachkräften
- Unterstützung der Meldestellen
- Teilhabemöglichkeiten für Kinder und Jugendliche
SOS-Kinderdörfer und Transparency verweisen auf die essenzielle Rolle der Whistleblower. Inzwischen seien Hinweisgeber im beruflichen Kontext EU-weit gesetzlich geschützt und Meldemöglichkeiten teils auch institutionell verankert.
Auch Ärztinnen und Ärzte sind Meldungen möglich
Das Melden von Kindeswohlgefährdungen ist auch Ärzten – trotz allgemeiner Schweigepflicht zu Patientenkontakten – erlaubt. Seit den 1990er-Jahren wird in Landesärztekammern Gewalt gegen Kinder thematisiert, inzwischen gibt es diverse Leitfäden. So wird z.B. im Leitfaden von Nordrhein-Westfalen beschrieben, wann Handeln überlegt werden sollte. Gewichtige Anhaltspunkte aufseiten des Kindes könnten sein:
- Hinweise auf Vernachlässigung, körperliche oder sexuelle Gewalt
- Berichte über kindeswohlgefährdende familiäre Umstände oder häusliche Überforderungssituationen
- auffällige Untersuchungsbefunde, Hinweise auf eine Vernachlässigung der Gesundheitsfürsorge
- mangelnder Pflege-/Ernährungszustand oder extreme Adipositas
- distanzloses Verhalten
- ungewöhnliche Verletzungen
- ungewöhnliche Lokalisation von Verletzungen, Lippen, Zähne, Mundinnenraum, Augenlider, Ohren, Gesäß, Genital etc.
- nicht versorgte (alte) Verletzungen
- ungewöhnliche Verletzungen bei nicht-mobilen Kindern, „unpassend“ für das Alter des Kindes
Sollten sich die Eltern des Kindes unkooperativ zeigen und Empfehlungen des Arztes nicht umsetzen, ist Aufmerksamkeit geboten. Im akuten Fall sollte der Fokus auf dem Identifizieren von Verletzungsspuren liegen.
Mehr zum O-Ton Allgemeinmedizin
O-Ton Allgemeinmedizin gibt es alle 14 Tage donnerstags auf den gängigen Podcast-Plattformen. Wir sprechen mit Expertinnen und Experten zum Umgang mit besonders anspruchsvollen Situationen in der Praxis.
Fotografien dürfen allerdings nur mit Einverständnis der Eltern bzw. Betreuungspersonen gemacht werden. Bei einem Verdacht auf eine chronische Gefährdung oder eine Vernachlässigung ist insbesondere die Änderung von Befunden und Entwicklungen im Verlauf entscheidend (z.B. Verlauf der Entwicklung unter Berücksichtigung der Perzentilenkurven, Erreichen oder Verfehlen von Meilensteilen in der geistig-motorischen Entwicklung, HbA1c-Wert bei Diabetikern).
Allerdings stellt das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz, seit 2012 in Kraft, auch klar, dass eine Rechtspflicht für Ärzte, Missbrauchsfälle bei einer Behörde anzuzeigen, nicht besteht. Erstes Ziel sollte sein, Eltern bei der Wahrnehmung ihres Erziehungsrechts und ihrer Erziehungsverantwortung zu unterstützen, insbesondere durch Information, Beratung und ein möglichst frühzeitiges, koordiniertes und multiprofessionelles Angebot vor allem in den ersten Lebensjahren für Mütter und Väter sowie schwangere Frauen und werdende Väter (frühe Hilfen).
Ergeben sich für Ärzte und Heilberufler gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen, so sollen sie mit diesem und den Erziehungsberechtigten die Situation erörtern und ggf. bei den Erziehungsberechtigten auf das Nutzen von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder Jugendlichen nicht infrage gestellt wird. Missbrauch ist zu verhindern. Anders ist es, wenn eine Straftat vermutet wird, wie bei sexualisierter Gewalt. Dann besteht für den Arzt ein sog. Rechtfertigungsgrund zum Melden des Verdachts.
Bei Zweifeln, ob es sich um Missbrauch handelt, kann das elektronische Informationssystem RISKID hilfreich sein, inklusive der hier möglichen Kommunikation mit Berufskollegen. Nach Erprobung in Duisburg steht das u.a. vom Bund Deutscher Kriminalbeamter und von der Deutschen Kinderhilfe unterstützte Portal Medizinern bundesweit offen.
Quelle: Medical-Tribune-Bericht