Strafrecht im Arztberuf – Garantenstellung und allgemeine Hilfspflicht

Niederlassung und Kooperation Autor: Christoph Klein / Dr. Jan-Maximilian Zeller

Im Zweifel gilt: Lieber ein Hausbesuch zu viel als zu wenig. (Agenturfoto) Im Zweifel gilt: Lieber ein Hausbesuch zu viel als zu wenig. (Agenturfoto) © Ivan – stock.adobe.com

Nicht nur bei der Behandlung können Fehler passieren, auch bei Untätigkeit riskieren Ärzte, sich strafbar zu ­machen. Die Kölner Rechtsanwälte Christoph Klein und Dr. Jan-Maximilian Zeller erklären, was zu beachten ist.

Die Frage, wann eine Rechtspflicht des Arztes zur Behandlung besteht und in welchem Umfang er verpflichtet ist, beantwortet das Strafrecht auf zwei Arten.

Zum einen muss der Arzt helfen, wenn er eine besondere Beziehung zu dem Patienten hat, die ihn rechtlich zum Tätigwerden verpflichtet (sog. Garantenstellung). Bleibt er trotz dieser ärztespezifischen Hilfspflicht untätig, begeht er eine Körperverletzung durch Unterlassen. Verstirbt der Patient infolge der Untätigkeit, kann eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen drohen.

Garant für übernommene Behandlungsaufgabe

Zum anderen besteht für ihn die allgemeine Hilfspflicht aus § 323c StGB. Kommt er dieser Pflicht nicht nach, droht ihm wegen unterlassener Hilfeleistung eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Im Einzelfall können noch andere, sozial- oder zivilrechtliche Behandlungsverpflichtungen bestehen.

Die Reichweite der Hilfspflicht: ein Fallbeispiel

Seine Grenzen findet die Hilfspflicht des § 323c Abs. 1 StGB in der Patientenautonomie. Es besteht keine Verpflichtung des Arztes, den Patienten gegen seinen Willen zu behandeln. In der aktuellen Rechtsprechung ist jedoch nicht ganz klar, in welchem Umfang der Arzt strikt an die Einhaltung des Patientenwillens gebunden ist. Insbesondere in Fällen, in denen der Patient sich aufgrund einer Erkrankung oder eines Suizidversuchs in Lebensgefahr befindet, kann eine andere rechtliche Bewertung erforderlich sein. Dies zeigt folgender Beispielfall aus der Rechtsprechung. Der Bundesgerichtshof hat in dem Fall einer 21-jährigen Patientin, die an einer Eileiterschwangerschaft litt und schließlich an einer Ruptur des Eileiters starb, unterlassene Hilfeleistung ihres Gynäkologen angenommen, obwohl dieser sie umfangreich über die Lebensgefahr aufgeklärt hatte und sie nachdrücklich angewiesen hatte, sich in ein Krankenhaus zu begeben. Die Patientin, die nicht wollte, dass ihre Mutter von der Schwangerschaft erfährt, lehnte dies ausdrücklich ab. Der Gynäkologe hatte einen Arztbrief an den Hausarzt diktiert, damit dieser auf die Patientin einwirke, diese war jedoch verstorben, bevor der Brief den Hausarzt erreichte. Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs war hier eine sofortige telefonische Benachrichtigung des Hausarztes oder der Mutter geboten. Der entgegenstehende Wille oder die Schweigepflicht des Arztes seien aufgrund der Lebensgefahr für die Patientin unbeachtlich. In solchen Fällen sollte der behandelnde Arzt vorherigen Rechtsrat einholen, um sicherzustellen, dass sein Handeln weder gegen seine rechtliche Hilfspflicht noch gegen seine Schweigepflicht oder seine Bindung an den Patientenwillen verstößt.

Die Garantenstellung eines Arztes entsteht nicht erst mit Abschluss eines wirksamen Behandlungsvertrages, sondern schon durch die Übernahme einer Behandlungsaufgabe. Bei einer Praxis wird davon bereits auszugehen sein, wenn der Patient nicht abgewiesen wird und im Wartezimmer Platz nehmen darf. Aber auch eine telefonische Konsultation kann bereits genügen, wenn dabei schon ein Teil der Behandlung übernommen wird. Entscheidend ist, ob das Verhalten des Arztes aus Sicht des Patienten eine Behandlungsübernahme darstellt, was schon bei allgemeinen Hinweisen zur Behandlung der Fall sein kann. Denn der Patient wird i.d.R. auf solche Hinweise vertrauen und nicht versuchen, anderweitig Hilfe zu erlangen. Deswegen sollte eine Verweigerung der Behandlung am Telefon stets klar und ausdrücklich angezeigt werden, ohne weitere konkrete Hinweise zu geben, wenn eine Behandlungsübernahme nicht gewollt ist. Auch kann eine Garantenstellung aus der Übernahme eines Bereitschafts- oder Notfalldienstes erwachsen, aus der Einbindung in die Organisation eines Krankenhauses, für den Schutz Dritter vor Patienten oder zum Schutz des Patienten vor sich selbst. Der Arzt hat die Pflicht, innerhalb des ihm übertragenen Aufgabenbereichs tätig zu werden und alle medizinischen Maßnahmen zu ergreifen, die möglich und zumutbar sind, um den Eintritt von Schäden von dem Patienten abzuwenden. Der Umfang der ärztlichen Hilfspflicht richtet sich immer einzelfallspezifisch nach den ärztlichen Regeln der Kunst. Nach der unmittelbaren Behandlung ist besonders auf sedierte Patienten zu achten, diese sind zu überwachen.

Erhöhte Anforderungen im Bereitschaftsdienst

Für den Arzt, der einen Bereitschafts- oder Notdienst übernommen hat, gelten erhöhte Anforderungen. Er hat für die Dauer seines Dienstes durchgehend einsatzbereit zu sein, muss grundsätzlich jedem Notruf folgen und hat im Zweifelsfall die persönliche Diagnose durch einen Hausbesuch vorzunehmen. Auf bloße Ferndiagnosen darf der Bereitschaftsarzt sich noch weniger verlassen als sonst, da diese kaum zuverlässig möglich sind. Die Hilfspflicht des Bereitschaftsarztes umfasst typischerweise die Erstversorgung des Patienten und ggf. eine Einweisung ins Krankenhaus unter Hinzuziehung des Notarztes im Rettungsdienst.

Das Buch zur Serie

Was sollten Ärzte unbedingt über das praktizierte Strafrecht und mögliche Folgen ihres Handelns wissen? Wie können sie gegenüber den Justizbehörden agieren, wenn der Ernstfall eintritt? Die Kölner Fach­anwälte für Strafrecht Christoph Klein und Dr. Jan-Maximilian Zeller haben die Antworten in einem für Nicht-Juristen gut lesbaren Buch zusammengefasst. Diese Medical-Tribune-Serie gibt Auszüge wieder.

Klein/Zeller: Strafrechtliche Risiken des Arztes, 2021, 168 Seiten, ecomed ­Medizin, ecomed-Storck GmbH, Preis: 39,99 Euro, ISBN 978-3-609-16538-7
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Die Garantenstellung endet mit Abschluss der Behandlung oder wenn ein anderer Arzt die Behandlung übernimmt. Grundsätzlich kann sie auch durch den Arzt mit Beendigung der Behandlung oder Kündigung des Behandlungsverhältnisses beendet werden. Das gilt jedoch nur, wenn dies nicht in einer Situation geschieht, in der der Patient dringend zeitnah medizinische Hilfe benötigt. Sie endet auch, wenn der Patient das Behandlungsverhältnis kündigt oder er auf jegliche weitere medizinische Behandlung verzichtet.

Hilfspflicht greift bei plötzlicher Verschlechterung

Nach § 323c StGB wird bestraft, wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten ist. Der Appell zum Tätigwerden trifft jedermann. Trotzdem ist bei Unglücksfällen mit Verletzungen insbesondere die ärztliche Sachkompetenz gefragt. Daraus kann sich ergeben, dass die allgemeine Hilfspflicht primär oder einzig und allein den anwesenden Arzt trifft. Die Rechtsprechung nimmt einen Unglücksfall dann an, wenn bei ernsthaften Krankheiten plötzliche Verschlimmerungen eintreten. So wurde beispielsweise das Vorliegen eines Unglücksfalles bei einer doppelseitigen Lungenentzündung verneint, weil beim Anruf des Arztes keine plötzliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes vorlag. Diese trat erst sechs Tage später ein und führte schließlich zum Tod des Erkrankten. Eine plötzliche Verschlechterung hat die Rechtsprechung jedoch z.B. bei folgenden Symptomen bejaht: Atemnot, Schmerzen in der Brust, Klagen über allgemeines Unwohlsein, akute und stark zunehmende Schmerzen. Die plötzliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist ein äußerst unklares Abgrenzungskriterium, auf das sich der Arzt nicht verlassen sollte. Im Zweifel ist von einer Verpflichtung zur Hilfe auszugehen. Um Strafbarkeitsrisiken zu vermeiden, gilt hier die Regel: „Lieber ein Hausbesuch zu viel als einer zu wenig!“ Nicht unter den Begriff des Unglücksfalls fallen normal verlaufende Schwangerschaften und Verletzungen, die sich der Verletzte in freiverantwortlicher Entscheidung selbst zugefügt hat und bei denen er sich weigert, Hilfe anzunehmen. Die Judikatur fasst auch den freiverantwortlichen Suizid oder den selbstverantwortlichen Rauschmittelmissbrauch als Unglücksfall auf. Der Arzt muss zu jeder Zeit Hilfe leisten und hierfür auch größere Strecken zurücklegen, wenn er als medizinische Unterstützung (telefonisch) angefordert wird. Er kann sich nicht im Nachhinein darauf berufen, dass durch seine Untätigkeit keine Verschlechterung eingetreten ist, wenn er nicht die erforderliche Hilfe leistet! Bei Verstößen wegen unterlassener Hilfeleistung ist oft die Zeit ein wichtiger Faktor. Der Arzt schuldet sofortige Hilfe. Zeitverzögerungen oder das Aufschieben der Behandlung sind zu vermeiden.

Checkliste zur unterlassenen Hilfeleistung

  • Liegt ein Unglücksfall vor? Insbesondere bei erkrankten Patienten mit (drohender) plötzlicher Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder bei Unfällen
  • Verstoß gegen Hilfspflicht: Hilfe erforderlich? Was ist die wirksamste, schnellste Maßnahme? Hilfe zumutbar? Einzelfallabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände
  • Vorsatz: Kenntnis vom Unglücksfall und der Hilfsmöglichkeit

Die Hilfsleistung kann dem Arzt unzumutbar sein, insbesondere dann, wenn sie nur unter erheblicher eigener Gefahr oder Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist. Was unzumutbar ist, wird durch eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalles ermittelt, wobei das Interesse des Verunglückten das des Arztes überwiegen muss, damit eine Hilfspflicht entsteht. Relevante Faktoren sind unter anderem die Gefahr für den Patienten aufgrund der Schwere der Verletzung/Erkrankung und die Wahrscheinlichkeit einer Verschlechterung seines Gesundheitszustandes. Diese werden abgewogen gegen die Rettungschancen, die fachlichen Fähigkeiten und die Verfassung des um Hilfe gerufenen Arztes, die ihm zur Verfügung stehenden ­Hilfsmittel sowie die räumliche Entfernung vom Unfallort usw.

Persönlicher Einsatz kann unzumutbar sein

Eine Verletzung anderer wichtiger Pflichten kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der Arzt andere Patienten dringend zu behandeln hat. So darf ein Arzt sein Krankenhaus oder seine Praxis nur dann zu einem Noteinsatz verlassen, wenn durch seine Abwesenheit keine Gefahr für andere Patienten in seiner Obhut entsteht. Auch kann beim Notarztdienst ein Hausbesuch im Ausnahmefall unzumutbar sein, wenn der Arzt infolgedessen für längere Zeit für andere Hilfesuchende nicht erreichbar ist. Ebenfalls kann der konkrete Eingriff wegen fehlender fachspezifischer Spezialkenntnisse oder aufgrund der persönlichen Situation des Arztes (z.B. Übermüdung nach langer Schicht) unzumutbar sein. In diesem Fall ist allerdings dafür zu sorgen, dass der Verunglückte zeitnah anderweitig Hilfe erlangt. Eine erhebliche eigene Gefahr für den Arzt liegt insbesondere dann vor, wenn er der Gefahr einer schweren Erkrankung ausgesetzt ist. Dass der Patient HIV-positiv ist, schließt jedoch die Hilfspflicht noch nicht aus.

Gastautorenbeitrag