Strafrecht im Arztberuf – Garantenstellung und allgemeine Hilfspflicht
Die Frage, wann eine Rechtspflicht des Arztes zur Behandlung besteht und in welchem Umfang er verpflichtet ist, beantwortet das Strafrecht auf zwei Arten.
Zum einen muss der Arzt helfen, wenn er eine besondere Beziehung zu dem Patienten hat, die ihn rechtlich zum Tätigwerden verpflichtet (sog. Garantenstellung). Bleibt er trotz dieser ärztespezifischen Hilfspflicht untätig, begeht er eine Körperverletzung durch Unterlassen. Verstirbt der Patient infolge der Untätigkeit, kann eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen drohen.
Garant für übernommene Behandlungsaufgabe
Zum anderen besteht für ihn die allgemeine Hilfspflicht aus § 323c StGB. Kommt er dieser Pflicht nicht nach, droht ihm wegen unterlassener Hilfeleistung eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Im Einzelfall können noch andere, sozial- oder zivilrechtliche Behandlungsverpflichtungen bestehen.
Die Reichweite der Hilfspflicht: ein Fallbeispiel
Erhöhte Anforderungen im Bereitschaftsdienst
Für den Arzt, der einen Bereitschafts- oder Notdienst übernommen hat, gelten erhöhte Anforderungen. Er hat für die Dauer seines Dienstes durchgehend einsatzbereit zu sein, muss grundsätzlich jedem Notruf folgen und hat im Zweifelsfall die persönliche Diagnose durch einen Hausbesuch vorzunehmen. Auf bloße Ferndiagnosen darf der Bereitschaftsarzt sich noch weniger verlassen als sonst, da diese kaum zuverlässig möglich sind. Die Hilfspflicht des Bereitschaftsarztes umfasst typischerweise die Erstversorgung des Patienten und ggf. eine Einweisung ins Krankenhaus unter Hinzuziehung des Notarztes im Rettungsdienst.Das Buch zur Serie
Klein/Zeller: Strafrechtliche Risiken des Arztes, 2021, 168 Seiten, ecomed Medizin, ecomed-Storck GmbH, Preis: 39,99 Euro, ISBN 978-3-609-16538-7
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Hilfspflicht greift bei plötzlicher Verschlechterung
Nach § 323c StGB wird bestraft, wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten ist. Der Appell zum Tätigwerden trifft jedermann. Trotzdem ist bei Unglücksfällen mit Verletzungen insbesondere die ärztliche Sachkompetenz gefragt. Daraus kann sich ergeben, dass die allgemeine Hilfspflicht primär oder einzig und allein den anwesenden Arzt trifft. Die Rechtsprechung nimmt einen Unglücksfall dann an, wenn bei ernsthaften Krankheiten plötzliche Verschlimmerungen eintreten. So wurde beispielsweise das Vorliegen eines Unglücksfalles bei einer doppelseitigen Lungenentzündung verneint, weil beim Anruf des Arztes keine plötzliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes vorlag. Diese trat erst sechs Tage später ein und führte schließlich zum Tod des Erkrankten. Eine plötzliche Verschlechterung hat die Rechtsprechung jedoch z.B. bei folgenden Symptomen bejaht: Atemnot, Schmerzen in der Brust, Klagen über allgemeines Unwohlsein, akute und stark zunehmende Schmerzen. Die plötzliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist ein äußerst unklares Abgrenzungskriterium, auf das sich der Arzt nicht verlassen sollte. Im Zweifel ist von einer Verpflichtung zur Hilfe auszugehen. Um Strafbarkeitsrisiken zu vermeiden, gilt hier die Regel: „Lieber ein Hausbesuch zu viel als einer zu wenig!“ Nicht unter den Begriff des Unglücksfalls fallen normal verlaufende Schwangerschaften und Verletzungen, die sich der Verletzte in freiverantwortlicher Entscheidung selbst zugefügt hat und bei denen er sich weigert, Hilfe anzunehmen. Die Judikatur fasst auch den freiverantwortlichen Suizid oder den selbstverantwortlichen Rauschmittelmissbrauch als Unglücksfall auf. Der Arzt muss zu jeder Zeit Hilfe leisten und hierfür auch größere Strecken zurücklegen, wenn er als medizinische Unterstützung (telefonisch) angefordert wird. Er kann sich nicht im Nachhinein darauf berufen, dass durch seine Untätigkeit keine Verschlechterung eingetreten ist, wenn er nicht die erforderliche Hilfe leistet! Bei Verstößen wegen unterlassener Hilfeleistung ist oft die Zeit ein wichtiger Faktor. Der Arzt schuldet sofortige Hilfe. Zeitverzögerungen oder das Aufschieben der Behandlung sind zu vermeiden.Checkliste zur unterlassenen Hilfeleistung
- Liegt ein Unglücksfall vor? Insbesondere bei erkrankten Patienten mit (drohender) plötzlicher Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder bei Unfällen
- Verstoß gegen Hilfspflicht: Hilfe erforderlich? Was ist die wirksamste, schnellste Maßnahme? Hilfe zumutbar? Einzelfallabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände
- Vorsatz: Kenntnis vom Unglücksfall und der Hilfsmöglichkeit
Persönlicher Einsatz kann unzumutbar sein
Eine Verletzung anderer wichtiger Pflichten kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der Arzt andere Patienten dringend zu behandeln hat. So darf ein Arzt sein Krankenhaus oder seine Praxis nur dann zu einem Noteinsatz verlassen, wenn durch seine Abwesenheit keine Gefahr für andere Patienten in seiner Obhut entsteht. Auch kann beim Notarztdienst ein Hausbesuch im Ausnahmefall unzumutbar sein, wenn der Arzt infolgedessen für längere Zeit für andere Hilfesuchende nicht erreichbar ist. Ebenfalls kann der konkrete Eingriff wegen fehlender fachspezifischer Spezialkenntnisse oder aufgrund der persönlichen Situation des Arztes (z.B. Übermüdung nach langer Schicht) unzumutbar sein. In diesem Fall ist allerdings dafür zu sorgen, dass der Verunglückte zeitnah anderweitig Hilfe erlangt. Eine erhebliche eigene Gefahr für den Arzt liegt insbesondere dann vor, wenn er der Gefahr einer schweren Erkrankung ausgesetzt ist. Dass der Patient HIV-positiv ist, schließt jedoch die Hilfspflicht noch nicht aus.Gastautorenbeitrag