Vertretungsärzte Selbstständig oder als Arbeitnehmer beschäftigt?
Für einen Stundensatz von 100 Euro und eine Umsatzbeteiligung von 50 % an selbst erbrachten oder verordneten IGeL agierte ein Kollege als Vertreter in der Praxis einer erkrankten Hautärztin. Der Vertretungsvertrag regelte die Arbeits- und Pausenzeiten und formulierte, dass die Tätigkeit freiberuflich erfolgt und der Arzt seine Steuern und Sozialbeiträge selbst abführt.
Doch es kam zu Unstimmigkeiten. Die Ärztin kündigte ihrem Vertreter außerordentlich. Die Differenzen waren schließlich so groß, dass sie ihm sogar Hausverbot erteilte. Der Arzt strengte eine Kündigungsschutz- und Leistungsklage an. Er ging nämlich jetzt davon aus, dass zwischen der Ärztin und ihm ein Arbeitsverhältnis bestanden habe.
Dem Personal Weisungen erteilt und Möbel umgeräumt
Die Ärztin bezweifelte die Zuständigkeit des Arbeitsgerichts: Der Kollege habe als freier Dienstleister gearbeitet! Sie habe ihm keine Anweisungen erteilen können, da sie nicht anwesend war. Der Arzt habe seine Arbeitszeiten und die der Mitarbeiter geändert, nach Gutdünken Weisungen ans Personal erteilt und Möbel umgeräumt. Trotz des von ihr erteilten Hausverbots habe er sich mithilfe der Polizei Zugang zur Praxis verschafft – mit der Begründung, er sei nicht Angestellter, sondern Praxisvertreter. Kurz: Er habe sich als Chef geriert.
In erster Instanz bestätigte das Arbeitsgericht allerdings das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses. Denn das Vertragsverhältnis sei nicht als freies Dienstverhältnis gelebt worden. Der Arzt sei vollständig in den Praxisbetrieb eingebunden gewesen und wegen der vertraglich festgelegten Arbeitszeiten habe er weder andere unternehmerische Tätigkeiten verrichten noch selbst bestimmen können, wann er Patienten behandelt oder Abrechnungsaufgaben erledigt. Ein für einen Selbstständigen charakteristisches unternehmerisches Risiko habe er nicht getragen.
Dass er als Facharzt die Behandlung der Patienten selbst organisieren und ohne Weisung habe durchführen dürfen, sei irrelevant: Bei einer hochqualifizierten Tätigkeit wie der eines Facharztes sei es auch im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses typisch, dass fachliche Weisungen weder erforderlich noch angemessen seien.
Das Landesarbeitsgericht Köln bestätigte: Die Arbeitnehmereigenschaft setze voraus, dass ein Arzt zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit persönlich verpflichtet ist – und das sei unter Betrachtung aller Umstände genau so gewesen.
Das traditionelle Bild der Tätigkeit eines Honorararztes sei von einer älteren Rechtsprechung geprägt. Danach reichte es für eine selbstständige Tätigkeit des Vertreters aus, dass dieser keinen Beschränkungen unterlag, die über die Verpflichtung zum Einhalten der Sprechstunden, zur Benutzung der Praxisräume und zur Abrechnung im Namen des Praxisinhabers hinausgingen. Mittlerweile habe die Rechtsprechung aber durch zahlreiche Einzelfallentscheidungen weitere Kriterien für eine selbstständige Tätigkeit im Gesundheitswesen herausgearbeitet. Wichtige Gesichtspunkte seien demnach: die freie Zeiteinteilung, der Einsatz eigener Betriebsmittel, eigene Angestellte, das Tragen von unternehmerischem Risiko sowie die Möglichkeit, aus den erzielten Honoraren eine eigene Altersversorgung aufzubauen.
Vor diesem Hintergrund seien wenige Konstellationen eines freiberuflichen Vertretungsarztes vorstellbar, warnt die Darmstädter Rechtsanwältin Barbara Schwinn. Schließlich sei eine Vertretung in einer Praxis ohne Arbeitszeiten genauso schwer vorstellbar wie eine Konstellation, dass ein Vertreter in seinen nicht-fachlichen Entscheidungen, z.B. der Abrechnung, komplett frei sei.
„Auch wenn das auf beiden Seiten des Beschäftigungsverhältnisses nicht so gerne gesehen wird: Wird eine Vertretung selbstständig in der Praxis beschäftigt, ist die Gefahr groß, dass das im Nachhinein zu Schwierigkeiten und zur Nachzahlung der Sozialabgaben führt“, sagt Rechtsanwältin Schwinn. Entsprechende Verfahren gebe es immer mehr.
Rentenversicherung prüft das Abführen von Beiträgen
Was im geschilderten Streit auch nicht half, waren Vereinbarungen, dass der Beschäftigte Aufträge ablehnen konnte, keine Firmenkleidung trug und an keiner Firmenfeier teilnahm. In Relation zu den Arbeitszeiten, die nun mal für einen funktionierenden Praxisalltag festgelegt werden müssen, fallen solche Regelungen kaum ins Gewicht. Auch ein Passus wie „Die Vertragsparteien verzichten auf den Klageweg“ taugt nichts – er ist schlicht unwirksam.
Und wie wahrscheinlich ist es, dass „die Sache auffliegt“, z.B. durch eine Prüfung von außen? Die Deutsche Rentenversicherung kontrolliert bei der Sozialversicherungsprüfung unter anderem, ob die Beiträge korrekt abgeführt wurden. Bei größeren Unternehmen steht diese Prüfung alle vier Jahre an und gehört zur Routine. Bei kleineren Unternehmen kann das länger dauern.
Das Risiko eines falsch gebrandeten Arbeitsverhältnisses liegt voll auf Arbeitgeberseite. Um den möglichen Schaden zu veranschaulichen: Aus einem Netto-Entgelt von 100 Euro können durch eine Nachzahlungspflicht über den Daumen Ausgaben von 350 Euro werden, schätzen Steuerberater. Arbeitnehmerbeiträge, die im Falle eines „Auffliegens“ eingefordert werden, können nicht vom Arbeitnehmer zurückgefordert werden, auch nicht über eine vertragliche Regelung. Rechtsanwältin Schwinn rät deswegen, bei einer Praxisvertretung grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Arbeitsverhältnis besteht.
Quellen:
ArbG Köln, Beschluss v. 3.12.2021, Az.: 19 Ca 3335/21
LAG Köln, Beschluss v. 6.5.2022, Az.: 9 Ta 18/22