
Erste Devise: Abstand! Selbstschutz und Deeskalation gegen Gewalt in Arztpraxen lässt sich trainieren

Die Aggression gegen medizinisches Personal hat in den letzten Jahren spürbar zugenommen. Und was als verbale Auseinandersetzung beginnt, kann auch in Bedrohungen oder sogar körperlichen Übergriffen enden. Wie können sich Ärztinnen, Ärzte und ihre Teams schützen? Darum geht es in unserer neuen Podcast-Folge von O-Ton Allgemeinmedizin, in der wir mit zwei Experten sprechen, die medizinisches Personal im Umgang mit Gewalt schulen. Olaf Schmelzer, Deeskalationstrainer und erfahrener Krankenpfleger in der Psychiatrie, und Christian Henke, Trainer für Selbstverteidigung und Selbstschutz, berichten aus erster Hand über die Herausforderungen im Praxisalltag.
Um sich auf die konkreten Problematiken einzustellen, gucken sich die beiden die spezifische Situationen möglichst sogar vor Ort an. Zwischen Facharztpraxen und Hausarztpraxen gebe es z.B. relevante Unterschiede, weil der Patientenstamm eine andere Bindung an die jeweilige Praxis hat, sagen sie.
Das Gefühl, nicht gehört zu werden, ist ein Auslöser
Die Ursachen für Gewalt in Arztpraxen sind vielschichtig. Frustration über lange Wartezeiten, Ärger über Zuzahlungen oder schlichtweg das Gefühl, nicht gehört zu werden, sind häufige Auslöser. Auch, dass Privatpatienten schneller an Facharzttermine kommen, sei ein möglicher Grund. „Da fühlen sich Menschen ungerecht behandelt“, sagt Deeskalationstrainer Schmelzer. Oft steht eine Mischung aus Stress, Angst und Unsicherheit dahinter, die die Patientinnen und Patienten zu unkontrollierten Reaktionen treibt.
In den Erzählungen der beiden Trainer wird deutlich, dass mit Blick auf mögliche Übergriffe nicht nur ein konkreter Selbstschutz wichtig ist, sondern auch eine vorausschauende Organisation im Praxisalltag. Es beginnt bei der Terminvergabe und Wartezimmergestaltung und endet bei einem durchdachten Notfallplan. Eine Praxis, die mit klaren Strukturen arbeitet, kann vielen Konflikten vorbeugen, sagt Schmelzer und verweist auf viele gute Beispiele, in denen Ärztinnen und Ärzte ihre Abläufe überarbeitet haben, um Stressmomente zu minimieren.
Kommt es zu Gewalt, beginnt diese meist im psychisch-verbalen Bereich, erzählt der Selbstverteidigungstrainer Henke. Etwa, wenn sich eine Person lautstark darüber äußert, dass sie keinen Termin oder das gewünschte Rezept nicht bekommt. Dann wird Druck auf das Personal ausgeübt, oft erst unterschwellig über die Stimmlage oder das körperliche Auftreten, und dann über die Drohung, dass „etwas passieren könne“, wenn man jetzt nicht „ganz schnell mit dem Arzt rumkommt“. Der psychische Stress, der dabei entsteht, ist bereits die Folge einer Form von Gewalt. „Es ist eine Art Nötigung, die da stattfindet, wenn auch nicht aus strafrechtlicher Sicht“, so Henke.
Problematisch ist dabei auch, so Schmelzer, dass viele kleine Beleidigungen und Bedrohungen, die nicht rechtsrelevant sind und die man kaum erfassen kann, „eine Art Teppich aus Belastungen ausmachen. Wenn ich am Tag dreimal eine Beleidigung höre, nehme ich das mit. Dann können danach zehn Danksagungen kommen – die drei Beleidigungen sitzen. Da gelingt es den Kolleginnen und Kollegen häufig nicht mehr abzuschalten.“
Und nicht immer reicht es, die Stressmomente für Patientinnen und Patienten zu reduzieren. Dann kann es zu direkten Konfrontationen kommen. Hier setzt Henke an, der neben Deeskalationstechniken auch Körpersprache und einen sicheren Stand zur Vorbereitung auf Eskalationen einsetzt. Entscheidend sei, frühzeitig zu erkennen, wann eine Situation kippen könnte, und sich dann bewusst zu verhalten.
Mit einer Entschuldigung die Notbremse ziehen
Und wenn eine Situation sich nicht entschärfen lässt? Was passiert, wenn der Punkt erreicht ist, an dem es offensichtlich keine Lösung gibt? Im Gespräch wird klar, dass es keine Patentrezepte gibt – jede Situation sei anders. Manchmal könne als letztes Mittel eine Entschuldigung oder ein schnelles Entgegenkommen helfen, eine Eskalation zu vermeiden. „Wir nennen es Notbremse, wenn man – sofern möglich – die gewünschte Unterschrift gibt oder den Zugang „zum Behandlungszimmer freimacht. Ab einen bestimmten Punkt darf ich nachgeben, um meine Gesundheit zu schützen,“ so Schmelzer. In anderen Fällen dagegen könne es auch notwendig sein, selbst in den Hintergrund zu treten, um die Situation nicht weiter aufzuheizen.
In diesem Zusammenhang betont Schmelzer, dass es nicht nur darum geht, die physische Gesundheit zu erhalten. Genauso wichtig sei es, nach einem Übergriff richtig mit den Betroffenen umzugehen. Viele Praxisteams sind nach einer aggressiven Begegnung verunsichert und benötigen Unterstützung. Die richtige Nachsorge kann helfen, Traumatisierungen zu vermeiden und das Team langfristig zu stärken.
Wer mehr hierzu erfahren möchte: Unsere Podcast-Folge gibt konkrete Einblicke in Strategien, die Ärztinnen, Ärzte und MFA nutzen können, um sich zu schützen. Neben Tipps für den Praxisalltag geht es auch um grundlegende Strukturen, die jede Praxis für sich überprüfen kann. Jetzt reinhören in O-Ton Allgemeinmedizin!
Quelle: Medical-Tribune-Bericht
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