Wie sehr eilt es mit dem Totenschein?

Autor: Dr. Carola Gessner, Foto: thinkstock

Sofort, gleich oder später hinfahren? In dieser Frage sind sich Ärzte nicht einig, wenn es um das richtige Verhalten bei einer Leichenschau-Anforderung geht.

Die gesetzlichen Grundlagen für die Leichenschau werden durch das Bestattungsgesetz geregelt und sind in Deutschland Ländersache, erklärte die Rechtsmedizinerin und Polizeiärztin Privatdozentin Dr. Andrea Dettling vom Psychiatrischen Zentrum Nordbaden in Wiesloch. Jeder approbierte Arzt muss diese Aufgabe auf Verlangen übernehmen und eine Todesbescheinigung (auch Leichenschauschein oder Totenschein) ausstellen, heißt es in der Leitlinie1 zum Thema.


Von dieser Regel gibt es Ausnahmen: In vielen Bundesländern haben Notärzte keine Leichenschau-Pflicht – sie müssen sich dafür bereithalten, Leben zu retten, so Dr. Dettling. Zudem gilt seit etwa fünf Jahren, dass der zuletzt behandelnde Arzt die Leichenschau nicht mehr vornehmen darf, wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass eine von ihm durchgeführte Maßnahme in irgendeiner Weise mit dem Todesfall zusammenhängt bzw. ein Behandlungsfehler in Betracht kommt, informierte die Referentin. Dabei könnte es sich z.B. auch um den Verdacht einer Impfkomplikation handeln.

Länderbestimmungen sehen unverzügliche Leichenschau vor

Erst die Lebenden retten, dann zum Toten fahren

Ein Anruf in der Praxis: „Da liegt ein Toter, kommen Sie!“ Hier können Sie beispielsweise einem Patienten mit Brustschmerz, den Sie im Sprechzimmer haben, nicht sagen, „warten Sie mal mit Ihrer Angina pectoris“. Dass Sie in diesem Fall erst einmal fertig behandeln, liegt unbedingt im Rahmen der Verhältnismäßigkeit, unterstrich Dr. Dettling.


In der Leitlinie heißt es allerdings auch: „Kann ein Arzt aus zwingenden Gründen, insbesondere zum Schutz eines höherwertigen Gutes (Pflichtenkollision) nicht oder nicht unverzüglich die Leichenschau vornehmen, so sollte er einen in der Nähe befindlichen Arzt oder den Notarzt alarmieren. Er muss sicher sein, dass dieser die Aufgabe übernimmt.“

In allen anderen Fällen sehen die landesrechtlichen Bestimmungen vor, dass die Leichenschau unverzüglich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit stattzufinden hat, sprich ohne schuldhaftes Verzögern. Dringende, nicht aufschiebbare Maßnahmen dürfen noch durchgeführt werden, z.B. das Behandeln eines akut erkrankten Patienten in der laufenden Sprechstunde. Nicht in Ordnung ist es hingegen, wenn Sie nach Ende der Sprechstunde auf dem Weg zum Verstorbenen noch schnell einkaufen gehen, verdeutlichte die Kollegin.


Denn die Frage lautet: Können Sie sich auf die Angabe „verstorben“ verlassen? Schließlich sind Sie es, der den Tod feststellt: Daher sollten Sie sich auf schnellstem Wege nach Erhalt der Anzeige über einen vermutlichen Todesfall zur Leichenschau begeben, um die Differenzialdiagnose „lebend oder tot“ zu stellen und über eine ggf. erforderliche Reanimation zu entscheiden, so heißt es in der Leitlinie1.


Doch wie praktikabel sind diese Vorgaben? Zu dieser Frage brach in Dr. Dettlings Auditorium eine lebhafte Diskussion aus.

  • „Die Angehörigen sitzen am Bett und rufen mich gleich nach dem letzten Atemzug an. Wenn ich sofort hinfahre, dann habe ich womöglich noch keine sicheren Todeszeichen und muss warten oder ein zweites Mal wiederkommen,“ wandte eine Kollegin ein.

  • „Wenn nachts im Altenheim eine 102-Jährige entschläft, dann fahre ich nicht sofort hin,“ bekannte ein älterer Kollege. Kommt der Anruf abends um 20 Uhr, sieht er zu, dass er die Frau vor Mitternacht gesehen hat. Und bei einem Todesfall um 3 Uhr schickt er – z.B. in der Rolle als Bereitschaftsdienstarzt – den Hausarzt am nächsten Morgen hin.

  • „Man kann auch die Angehörigen einbeziehen und fragen: „Sind Sie damit einverstanden, wenn ich in zwei Stunden komme?“, schlug eine Hausärztin vor.

  • Und eine weitere Kollegin konstatierte: „Man muss kein schlechtes Gewissen haben, wenn man an den Hausarzt verweist, der die Patientin ja viel besser kennt.“

  • Eine Teilnehmerin erklärte, dass sie u.U. sogar im Voraus Absprachen mit dem Pflegeheimpersonal trifft: „Wenn jemand erwarteterweise stirbt, und das geschieht nachts, dann muss man mich nicht noch in der Nacht anrufen.“


Einige dieser Statements blieben nicht unwidersprochen. Vor der Absprache, den Anruf in der Nacht gänzlich zu unterlassen, warnte ein Kollege. „Die Schwester muss anrufen, weil nur ein Arzt den Tod feststellen darf,“ bekräftigte Dr. Dettling. Und rein am Gesetzestext gibt es nichts zu deuteln: Sie müssen unverzüglich hinfahren.

Bei zu spätem Erscheinen droht eine Geldstrafe

„Wenn Sie sagen, da komme ich als Hausarzt oder ärztlicher Bereitschaftsdienst nicht um 1 Uhr nachts, dann ist das Ihr Risiko,“ kommentierte die Referentin. Die Entscheidung im Einzelfall liegt dann beim jeweiligen Staatsanwalt oder Richter, der das möglicherweise anders sieht – wie gesagt, lässt der Gesetzestext einigen Interpretationsspielraum zu.


Kollegen, die eine Leichenschau zu spät oder überhaupt nicht vornehmen, riskieren zumindest Geldstrafen wegen einer Ordnungswidrigkeit. Sicherlich kommt es aber im Fall eines erwarteten Todes kaum je vor, dass jemand einen Arzt wegen zwei Stunden Verzögerung verklagt, war sich das Auditorium einig.


Für eine Teilnehmerin hat das Verhalten im konkreten Fall allerdings auch mit Kollegialität zu tun: „Wenn ich Bereitschaftsdienst hätte, würde ich mir das nicht anmaßen, eine Leichenschau abzulehnen, und das dem Hausarzt für den nächsten morgen quasi übrigzulassen. Ich als Hausärztin wäre von solch einer Handlungsweise nicht begeistert.“


http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/054-002l_S1_Leichenschau_2013-01.pdf

Quelle: 22. Heidelberger Tag der Allgemeinmedizin