Barrierefreiheit „Wir sind nur passabel“

Praxismanagement , Praxisführung Autor: Cornelia Kolbeck 

Wenn Rampe und Aufzug fehlen, fehlt oft auch der Praxiszugang. Wenn Rampe und Aufzug fehlen, fehlt oft auch der Praxiszugang. © Prostock-studio – stock.adobe.com

Kurz vor Jahresende machte sich der Behinderten­beauftragte der Bundesregierung Luft über fehlende Zugänge für Rollstuhlfahrer sowie seh- oder hörbehinderte Patienten zu Arztpraxen. Dass es hierzulande an Barrierefreiheit mangelt, ist lange bekannt, es ändert sich aber kaum etwas. 

Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, konstatiert eine strukturelle Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen, weil diese beispielsweise beim Zugang zu Arztpraxen auf viele Barrieren stoßen. Drei Viertel der Arztpraxen seien immer noch nicht barrierefrei, obwohl Deutschland vor 15 Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert habe. 

Und mit Verweis auf die Vorgaben des § 2a SGB V bemerkt Dusel: „Wir können uns jetzt mal die Frage beantworten, inwieweit diese Versicherten gleichberechtigt wie andere Versicherte ohne Behinderungen die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung für sich in Anspruch nehmen können oder eben auch nicht.“ 

Es gehe bei Barrierefreiheit nicht nur darum, auf Rollstuhl-Nutzende zu achten, sondern z.B. auch auf Menschen, die auf leichte Sprache angewiesen seien, erklärt der Bundesbeauftragte. Kritisch sieht er, dass selbst im medizinischen Bereich Menschen mit Lernbehinderungen bestimmte Fähigkeiten abgesprochen werden. Dabei versetzten leichte Sprache oder Assistenz diese Menschen durchaus in die Lage, durch informierte Entscheidungen selbstbestimmt zu leben.

Deutschland vom UN-Fachausschuss gerügt

Mitte 2023 war Deutschland vom UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen wegen der großen Diskrepanz zwischen der finanziellen, relativ teuren Ausstattung des Gesundheitssystems und andererseits fehlender gleichberechtigter Teilhabe von Menschen mit Behinderungen gerügt worden.

„Da spielen natürlich die Arztpraxen unter anderem eine zentrale Rolle“, ist Dusel überzeugt. Er drängt die Ampel-Regierung dazu, den im Koalitionsvertrag verankerten Aktionsplan für ein diverses, barriere­freies, inklusives Gesundheits­system umzusetzen sowie bestehende Probleme anzugehen und auch die Barrierefreiheit von Arztpraxen durch eine Änderung im Behinderten­gleichstellungsgesetz zu forcieren. 

Laut Dusel gibt es in Deutschland weniger als zehn gynäkologische Praxen, die für Frauen im Rollstuhl barrierefrei zugänglich sind: „Das führt dazu, dass Frauen mit Behinderungen, also mit Rollstuhl, bestimmte Vorsorgeuntersuchungen eben weniger machen.“ 
Diesen Zustand könne man nicht akzeptieren, nicht tolerieren, sagt Dusel, der auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung verantwortlich macht: „Dass wir jetzt immer noch teilweise mit der KBV über die Kriterien von Barrierefreiheit diskutieren müssen, empfinde ich ehrlich gesagt als sehr unprofessionell.“ 

Österreich habe schon vor Jahren festgeschrieben, dass Arztpraxen barrierefrei sein müssten und notfalls auch Schadensersatzansprüche daran geknüpft werden können. Dusel räumt allerdings ein, dass von bestehenden Einrichtungen keine zu schnell realisierende Barrierefreiheit erwartet werden kann. Denkbar ist für ihn jedoch, dass bei Neuzulassungen auf entsprechende Vorgaben geachtet werden muss. 

Barrierefreiheit ist in voller Bandbreite nicht zu erfüllen

„Die Forderung nach gesetzlichen Regelungen zu einer verpflichtenden Barrierefreiheit in allen Arztpraxen ist realitätsfern und atmet den Hauch des Populismus“, erklärt die KBV zur Kritik des Behindertenbeauftragten. Es gebe allein über 80 Kriterien für Barrierefreiheit, bezogen auf sechs Beeinträchtigungsarten. „Das kann keine Praxis, vermutlich keine Einrichtung, wohl auch kaum eine öffentliche, in Deutschland in voller Bandbreite erfüllen“, meint KBV-Vorstandschef Dr. Andreas Gassen. Der KBV-Vorstand verweist auf diverse Gründe für fehlende Barrierefreiheit, etwa teils miteinander konkurrierende Auflagen vor Ort, Brand- und Denkmalschutz, Gewerbeaufsichtsvorgaben, Vorschriften des Vermieters sowie hohe Umbaukosten.

Politik und Selbstverwaltung müssen aktiv werden

Es gebe zwar barrierefreie Praxen, es sei aber immer noch schwierig, eine in der Nähe zu finden, moniert ­Ulrike Elsner, Vorstandsvorsitzende des Ersatzkassenverbandes und Mitwirkende am Kooperationsverbund Nationale Gesundheitsziele. Sie hält für mehr Barrierefreiheit ebenfalls gesetzgeberische Unterstützung für erforderlich, andererseits mehr Handeln der gemeinsamen Selbstverwaltung. 

Gut funktioniert hat das nach ihrer Schilderung bereits beim Einladungssystem fürs Mammografie-Screening. Dieses gehe auf gesetzgeberische Aktivitäten sowie auf eine Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zurück. Die einladenden Stellen müssten inzwischen melden, wo es besondere Barrierefreiheit gebe und inwieweit auf bestimmte Einschränkungen in der Versorgung konkret reagiert werden könne. 

Das sei aber nur ein Versorgungsbereich, gibt sie zu bedenken. „Wenn man nicht richtig hören kann, dann kann man auch nicht richtig verstehen.“ Das bringe Probleme in der Patientensicherheit und in der Qualität der Versorgung: „Und deswegen, glaube ich, sind wir alle aufgefordert, tatsächlich ganz konkret bei den einzelnen Themen aktiv zu werden.“ Zehn nationale Gesundheitsziele gibt es zurzeit. 

Barrierefreiheit spielt jedoch eine Rolle, wenn es darum geht, dass Patienten Zugang zu qualitätsgesicherten Informationen erhalten, um ihre Gesundheit betreffende Entscheidungen fällen zu können. Unter der Überschrift Patientensicherheitskompetenz heißt es: „Sprachbarrieren und Verständnisprobleme werden sowohl aufseiten der Patientinnen und Patienten als auch aufseiten der Beschäftigten im Gesundheitswesen erkannt. Entsprechende Maßnahmen zu deren Überwindung werden ergriffen.“

Stefan Schwartze, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten, unterstreicht die Notwendigkeit zum Handeln. Patientensicherheit sei nichts Nebensächliches oder Zusätzliches, sie müsse im gesamten Gesundheitswesen für alle Akteure und Beteiligten handlungsleitend sein. 

Patientensicherheit ist doch nichts Nebensächliches 

Der Patientenbeauftragte sieht dabei ebenfalls den Gesetzgeber in der Pflicht. Das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz könne derzeit dazu führen, dass Patienten ihr selbstbestimmtes Leben in der eigenen Häuslichkeit verlören. Die Politik müsse dieses Gesetz ändern, um genau so etwas auszubremsen.

Und im Rückblick auf die Pandemiemaßnahmen mahnt Schwartze an: „Wir müssen die Balance der Verhältnismäßigkeit solcher Einschränkungen wahren und im Zweifel die Betroffenen auch selbst entscheiden lassen, welche Risiken sie einzugehen gewillt sind.“ 

Bundesärztekammerpräsident Dr. Klaus Reinhardt sieht hinsichtlich Patientensicherheit die ärztliche Selbstverwaltung und an dieser Stelle auch die Bundes­ärztekammer längst „sehr, sehr viel seit langer Zeit und auch sehr effizient“ unterwegs. Bei der Inklusion dagegen sehe das etwas anders aus, bemerkt er. „Ich würde sagen, dass wir in Bezug auf Inklusion für Patienten und Menschen mit Behinderungen passabel sind, aber nur passabel bei Menschen mit einer sensorischen Behinderung, also nicht hören, nicht sehen können.“ 

Deutlich geringer noch sei die Inklusion von Menschen mit einer Lernbehinderung. Hier passiere Inklusion im Sinne von Partizipation am Gesundheitswesen am aller­wenigsten. Bei der Verbesserung der Inklusion von Menschen mit geistiger oder Lernbehinderung gebe es wirklich viel Potenzial, weshalb „wir uns mehr Mühe geben sollten“. 

Besser schätzt der Kammerpräsident die Barrierefreiheit im System ein, allerdings gebe es hierzu bisher keine Statistik. Es gebe jedoch den Appell, Barrierefreiheit herzustellen, und die Sensibilisierung hierfür sei auch schon da.

Medical-Tribune-Bericht