Seelische Betreuung in Hausarztpraxen „Aussitzen und abwarten ist bei Psycho nicht klug“
Bis zu ein Drittel der Behandlungsanlässe in der hausärztlichen Praxis bezieht sich auf psychische Erkrankungen“, betont Prof. Dr. Jochen Gensichen, Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Doch die Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz sind in Deutschland mit durchschnittlich 96 Tagen lang, benennt der Mediziner ein zentrales Problem bei der Versorgung psychisch Kranker. So kommt es wohl auch, dass 60 % der Menschen mit Depressionen ausschließlich in der Hausarztpraxis versorgt werden.
Und dort sind die Patientinnen und Patienten in der Regel auch sehr gut aufgehoben, meint Prof. Gensichen in der aktuellen Podcastfolge von O-Ton Allgemeinmedizin. Denn je eher die Behandlung startet, desto besser: „Wenn eine psychotherapeutische Versorgung nicht innerhalb von 50 Tagen beginnt, sind die Effekte deutlich schlechter.“ Da könne man nicht drei Monate und länger auf den Termin beim Spezialisten warten. „Aussitzen und abwarten ist bei Psycho nicht klug.“
Hinzu kommt, dass man als Hausärztin oder Hausarzt seine Patientinnen und Patienten in der Regel gut kennt und gleich in die Therapie starten kann. „Ein Psychotherapeut oder ein Psychiater braucht sechs bis sieben Sitzungen, um die therapeutische Beziehung überhaupt erst aufzubauen.“ Das sei sowieso der große Vorteil der Hausärztin und des Hausarztes: „Es geht in der Frühphase schneller.“
Man müsse keinesfalls ein Masterstudium in Psychologie abgeschlossen haben, um eine entsprechende Therapie beginnen zu können. Es reiche vollkommen aus, über die notwendige ärztliche Erfahrung und über die gängigen Techniken der Gesprächsführung zu verfügen. Prof. Gensichen rät zu mehr Zutrauen in die eigene psychologische Kompetenz: „Wir machen in unserem praktischen Alltag viel mehr psychologische Arbeit, als wir uns selber zuschreiben würden.“
Hilfreich sei es zudem, ein gewisses Repertoire an psychologischen Kurzinterventionen zu beherrschen. „Diese Interventionen sind so runtergebrochen, dass meistens in drei bis vier Sitzungen à 20 Minuten ein Start stattfinden kann.“ Für Hausärztinnen und Hausärzte ohne psychotherapeutischen Schwerpunkt bietet ein von Prof. Gensichen mitentwickeltes Handbuch praktische Anleitung.
In komplizierten Situationen müsse aber die Spezialistin oder der Spezialist ran, zeigt Prof. Gensichen auch klar die Grenzen der hausärztlichen Kunst auf: Wenn die psychologischen Kurzinterventionen nicht zum Ziel führen, wenn starke Angststörungen eine Depression überlagern, andere psychische Erkrankungen vorliegen oder schwere somatische Probleme bestehen oder wenn man sich selber nicht sicher ist, womit man es zu tun hat, rät er zur Überweisung.
In diesem Zusammenhang sind lebensmüde Gedanken ein ganz wichtiges Thema. „Keinem Menschen ist damit geholfen, wenn das Thema Suizidalität ignoriert wird.“ Die Sorge, mit entsprechenden Fragen Schaden anzurichten, sei unbegründet, stellt Prof. Gensichen klar.
Unfaire Vergütung bei der psychologischen Versorgung
Als Ärztin oder als Therapeut könne man keinen Menschen in den Suizid reden. „Aber eine Suizidalität bei Verdacht nicht anzusprechen, da würde ich sagen, das ist als Kunstfehler zu betrachten.“
Für die psychologische Versorgung erhalten die Hausärztinnen und Hausärzte oft nur einen Bruchteil der Vergütung, die eine Psychologin oder ein Psychologe für die gleiche Tätigkeit bekommt, kritisiert Prof. Gensichen abschließend. „Ich rede nicht von hochkomplizierten, traumatisierten Patienten, sondern wirklich von diesen Frühbelastungen. Und da, finde ich, sollte man das Geld fair verteilen.“
Quelle: Medical-Tribune-Bericht
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