Nicht-Polio-Enteroviren Comeback der Kinderlähmung
Seit die WHO der Poliomyelitis 1988 den Kampf angesagt hat, ist die Fallzahl um nahezu 100 % zurückgegangen. Das Ziel, die Kinderlähmung weltweit auszurotten, ist damit fast erreicht. Mit Pakistan und Afghanistan sind es nur noch zwei Länder, in denen der Erreger endemisch vorkommt, berichtete Professor Dr. Hans-Iko Huppertz von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin in Berlin. Im letzten Jahr erkrankten 900 Menschen an Kinderlähmung, von denen die WHO jeden einzelnen „persönlich“ kennt, so der Referent.
Auch Autoimmunerkrankungen können Lähmungen auslösen
Nach wie vor aber gibt es Fälle von akuter schlaffer Lähmung auch in solchen Ländern, in denen die Poliomyelitis schon seit Jahren nicht mehr aufgetreten ist. Dem können autoimmune Erkrankungen wie das Guillain-Barré-Syndrom zugrunde liegen, erläuterte Prof. Huppertz, oder Erreger wie Adeno-, Parecho-, das Flavi- oder das Herpes-simplex-Virus. Vor allem aber dürften andere Enteroviren als das Poliomyelitisvirus die Auslöser derartiger Paresen sein, so der Experte.
Diese Viren bestehen aus nur vier verschiedenen Proteinen, die eine kurze einzelsträngige RNA umschließen. Da sie keine Lipidhülle besitzen, können ihnen die gängigen alkoholischen Handdesinfektionsmittel nicht viel anhaben.
Die Nomenklatur der Enteroviren ist verwirrend: Es gibt vier humanpathogene Spezies (A bis D), die sich in verschiedene Genotypen unterteilen. Neu entdeckte Typen wurden einfach mit der Spezies und einer Nummer bezeichnet, z.B. EV-A71 als Erreger der Hand-Fuß-Mundkrankheit. Zudem sind die alten Bezeichnungen Echovirus und Coxsackievirus nach wie vor gebräuchlich.
Enteroviren zeichnen sich durch eine breite genetische Diversität und Instabilität aus. Typischerweise entstehen während der Infektion zahlreiche genetische Varianten. In die Zellen aufgenommen werden die Erreger über eine ganze Reihe verschiedener Rezeptoren.
Etwa die Hälfte der Infektionen verläuft asymptomatisch. Es gibt eine große Bandbreite von Organmanifestationen wie Nasopharyngitis, Herpangina, Bronchitis, Gastroenteritis, Hepatitis, Konjunktivitis, Perimyokarditis, dazu Hautausschläge und die Hand-Fuß-Mundkrankheit. Die Symptomatik, die durch einen bestimmten Typ ausgelöst wird, kann sich über die Jahre der Koexistenz von Virus und Mensch ändern.
Neurologische Manifestationen sind:
- aseptische Meningitis
- Enzephalitis
- akute schlaffe Paresen
Für die schlaffen Paresen durch Nicht-Polio-Enteroviren gilt ebenso wie für die Kinderlähmung, dass stets eine gewisse Behinderung zurückbleibt, sofern die Erkrankung nicht tödlich ist.
EV-D68 ist im Stuhl nicht nachweisbar
Die Neuroinvasion der Enteroviren kann verschiedene Wege nehmen:
- Das Virus erreicht die Muskelzellen und wird über die motorische Endplatte retrograd axonal transportiert, ähnlich wie es beim Poliovirus geschieht.
- Die Infektion verläuft von Immunzellen über den Plexus chorioideus ins ZNS.
- Zellen der Blut-Hirn- oder Blut-Liquor-Schranke werden infiziert.
Im Rahmen der Enterovirus-Surveillance des RKI werden in Deutschland jährlich etwa 2.000 bis 3.000 Stuhlproben untersucht, von denen etwa 20–30 % positiv ausfallen. Zum Ausschluss einer Poliomyelitis werden die Viren typisiert.
Volles Programm bei der Erregerdiagnostik
* Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein
Quelle: 15. Kongress für Infektionskrankheiten und Tropenmedizin*
* Online-Veranstaltung