Polioähnliche Erkrankungen nach Atemwegsinfekten bei Kindern

Autor: Dr. Alexandra Bischoff

Das Enterovirus D68 wird fäkal-oral, über Speichel und Tröpfchen übertragen. Das Enterovirus D68 wird fäkal-oral, über Speichel und Tröpfchen übertragen. © CDC/ Cynthia S. Goldsmith, Yiting Zhang

Seit einigen Jahren mehren sich bei Kindern polioähnliche Erkrankungen, die auf die Infektion mit dem Enterovirus D68 zurückgehen. Typischerweise gehen diesen akuten schlaffen Myelitiden fiebrige Atemwegsinfekte voraus. Als Nachwirkung kann eine Muskelschwäche fortbestehen.

Während Polioviren infolge einer globalen Impfkampagne der WHO fast komplett eradiziert werden konnten, nimmt die klinische Relevanz von Non-Polio-Enteroviren seit einigen Jahren deutlich zu. Insbesondere Infektionen mit ­Enterovirus D68 werden seit 2014 zunehmend bei Kindern mit akut verlaufenden, polioartigen schlaffen Lähmungen (acute flaccid myelitis, AFM) beob­achtet. Warum es neuerdings weltweit zur gehäuften Prävalenz des bereits seit mehreren Jahrzehnten bekannten Erregers kommt, weiß man nicht, schreibt Professor Dr.  Marcus ­Panning vom Institut für Virologie des Universitätsklinikums Freiburg.

Non-Polio-Enteroviren

  • Enterovirus D68
  • Enterovirus A71
  • Coxsackie-Virus A16
  • Enterovirus D70

Auch in Deutschland hat sich das Enterovirus D68 in einem saisonalen und zweijährigen Rhythmus etabliert. Die meisten Infektionen mit den kleinen hüllenlosen ­RNA-Viren aus der Familie Pico­rna­viridae finden im Kindesalter statt. Die Übertragung erfolgt ­fäkal-oral sowie über Speichel- und Tröpfchen, selten auch transplazentar. Die Infektionen verlaufen überwiegend asymptomatisch. Eine Erkrankung äußert sich mit Fieber und respiratorischen Symptomen, wobei der Schweregrad variiert.

Hinter diesen Krankheiten stecken Enteroviren

  • Hand-Fuß-Mund-Krankheit
  • Herpangina
  • „Sommergrippe“
  • Bornholm-Krankheit
  • aseptische Meningitis/Enzephalitis

Nachweis am besten aus Stuhl- oder Rachenabstrichproben

Als Beispiel berichtet der Virologe vom folgenden Fall: Ein knapp vier Monate alter Säugling mit Fieber, Husten und Schnupfen wird von seinen Eltern in die Notaufnahme gebracht. Das zwei Tage zuvor aufgetretene Fieber sei trotz Paracetamolzäpfchen nicht zurückgegangen. Der Junge habe sich zudem wiederholt erbrechen müssen. Bei der Aufnahme weist das Kind einen reduzierten Allgemeinzustand auf, ist weinerlich und schlapp. Bis auf Fieber (38,5 °C) und einen erhöhten Puls (180/min) ist die klinische Untersuchung unauffällig. Die Laborbefunde sind bis auf das ­C-reaktive Protein (12,3 mg/l) alters­entsprechend normwertig. Auch die weitere Diagnostik mit Liquorpunktion, PCR und Blutkulturen bringt keinen Hinweis auf den Erreger. Erst im Rachenabstrich wird schließlich ­Enterovirus D68 nachgewiesen. Bei manchen Kindern werden nach der Infektion neurologische Krankheitsbilder beob­achtet. Polio­artige schlaffe Lähmungen treten eher selten auf, jedoch sind deren Verläufe teilweise sehr schwer und ein großer Teil der Patienten leidet dauerhaft unter einer Muskelschwäche. Die Diagnosestellung der akuten schlaffen Myelitis ist schwierig und erfordert die enge interdisziplinäre Zusammenarbeit von Pädiatern, Neuropädiatern, Radiologen und Mikrobiologen. Während eine typische Symptomatik bei Infektionen mit Enteroviren im Allgemeinen, wie z.B der Hand-Fuß-Mund-Krankheit, keine weitere molekularbiologische Dia­gnostik erforderlich macht, wird diese v.a. bei schweren oder atypischen Verläufen sowie einer ungewöhnlichen Häufung von Fällen empfohlen. Am besten geeignet für einen Enterovirus-Nachweis sind Stuhl- und Rachenabstrichproben, die Liquordiagnostik hilft kaum weiter. Speziell der Enterovirus-D68-Nachweis gelingt häufig nur aus respiratorischen Materialien. Mit der Ausnahme von Polio­viren ist die Infektion mit Entero­viren nicht meldepflichtig.

Einen Impfstoff gegen das Enterovirus gibt es nicht

Die Behandlung erfolgt rein symptomatisch. Ein Impfstoff existiert derzeit in Europa nur gegen Polioviren. Da Enteroviren recht widerstandsfähig sind, werden zur Hände- und Flächendesinfektion ausschließlich viruzide Desinfektionsmittel empfohlen. Zudem hilft regelmäßiges Händewaschen, um Übertragungen im ambulanten und stationären Bereich weitgehend zu verhindern.

Quelle: Panning M. Monatsschr Kinderheilkd 2020; 168: 502-507; DOI: 10.1007/s00112-020-00900-4