Soziale Vererbung Die Kinder von Amor und Psyche
Drei bis vier Millionen Kinder wachsen in Deutschland mit mindestens einem psychisch kranken Elternteil auf, berichten Emilia Geiger von der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Uniklinikum Marburg und Kollegen. Ihr Risiko für eine psychische Erkrankung ist um ein Vielfaches höher als das von Kindern mental gesunder Eltern. Dies schlägt sich in der Prävalenz psychischer Störungen nieder, die bei betroffenen Kindern um das Zwei- bis Fünfache erhöht ist.
Doch drohen nicht nur seelisch-mentale Probleme. Die ungünstige Konstellation kann auch schwere Folgen für Kognition, Spracherwerb und körperliche Gesundheit der Kinder haben. Trotzdem finden diese Kinder und ihre Nöte kaum Beachtung. Das hat mehrere Ursachen. So suchen psychisch kranke Eltern bezüglich ihrer Kinder selten aktiv Hilfe. Hintergrund sind Schamgefühle oder die Tendenz, auffälliges Verhalten der Kinder zu bagatellisieren. Aber auch die Angst vor Stigmatisierung oder negativen Konsequenzen, wie z.B. einem Sorgerechtsentzug, führen dazu, dass sie die Thematik lieber nicht ansprechen.
Hinzu kommt ein Versagen aufseiten der Therapeuten. So werden psychisch kranke Eltern in ihrer eigenen Therapie oft gar nicht zu ihren Kindern und deren Befindlichkeit befragt, berichten Geiger und Kollegen. Geschweige denn, dass diese in die therapeutischen Bemühungen eingeschlossen würden. Insgesamt fehle es im individuumszentrierten deutschen Gesundheitssystem an familienorientierter Versorgung, bemängeln die Autoren.
Dabei sind betroffene Familien besonders häufig mit psychosozialen Risikofaktoren behaftet, die die Erkrankungswahrscheinlichkeit für die Kinder erhöhen. Dazu zählen:
- Arbeitslosigkeit, Armut, unzureichende Wohnverhältnisse
- niedriger Ausbildungsstand der Eltern
- soziale Rückständigkeit, kulturelle Diskriminierung
- Trennung oder Scheidung der Eltern, Verlust wichtiger Bezugspersonen
- Dysharmonie und Konflikte in der elterlichen Beziehung
- zwei- bis fünffach erhöhtes Risiko für Vernachlässigung, Misshandlung, sexuellen Missbrauch
Eine elterliche psychische Erkrankung kann über zwei Wege Einfluss auf die kindliche Psyche nehmen. Zum einen wird die Vulnerabilität für solche Erkrankungen genetisch vererbt. Bei Angststörungen und Depression geht man von 30–40 % Heritabilität aus, bei bipolaren Störungen und ADHS von 60–80 % und bei Schizophrenie von 73–90 %. Auch für substanzbezogene Störungen wie Alkohol- oder Drogenmissbrauch ist eine genetische Komponente wahrscheinlich. Bemerkenswert ist, dass die Kinder nicht nur ein erhöhtes Risiko für die Erkrankung ihrer Eltern haben, sondern allgemein für psychische Erkrankungen.
Kinder geben sich die Schuld an der Erkrankung der Eltern
Neben den Genen spielen äußere Einflüsse eine Rolle. Dazu gehören pränatale Faktoren wie Alkohol und Rauchen in der Schwangerschaft, aber auch ungünstige Lebensbedingungen (z.B. inadäquate Erziehung, unbefriedigte Grundbedürfnisse). Diese erschweren die gesunde Entwicklung oft deutlich. So sind viele Kinder desorientiert und verängstigt, weil sie Verhalten und Probleme des erkrankten Elternteils nicht einordnen können. Oftmals haben sie niemanden, mit dem sie darüber sprechen könnten, sind sie isoliert oder geben sich die Schuld an der Erkrankung der Eltern.
Es mangelt in den Familien an angemessener Betreuung, ältere übernehmen die Elternrolle für jüngere Geschwister oder komplett die Verantwortung für alle. Von großer Bedeutung ist zudem die Abwertung, die die Familien oft von außen erfahren. Die Kinder schämen sich und geraten in immense Loyalitätskonflikte.
Hilfs- und Beratungsangebote
- Balu und Du – bundesweites Programm zur Vermittlung von Paten für Grundschüler
www.balu-und-du.de - Hessische Landesstelle für Suchtfragen
www.hls-online.org - Bündnis gegen Depression
www.deutsche-depressionshilfe.de - Landesverband Hessen der Angehörigen psychisch Kranker
www.angehoerige-hessen.de
Quelle: Geiger E et al. Hessisches Ärzteblatt 2021; 82: 624-627