Funktioneller Hypogonadismus: Mehr Testosteron ohne Substitution

Autor: Dr. Angelika Bischoff

Wenn doch eine Substitution ansteht, dann am besten in Form von Gel. Wenn doch eine Substitution ansteht, dann am besten in Form von Gel. © mbruxelle – stock.adobe.com

Die Substitution soll’s richten – mit dieser Erwartungshaltung kommen viele Männer mit selbst gestellter Verdachtsdiagnose Testosteronmangel in die Praxis. Bei 95 % liegt aber ein funktioneller Hypogonadismus vor. Eine Hormontherapie bringt da wenig.

Weitgehend unspezifische Symptome führen die Patienten zu Dr. Google. Dazu zählen u.a. Abnahme von Libido und Potenz, Reizbarkeit, depressive Verstimmung, Müdigkeit und Schlaflosigkeit, Gelenk- und Muskelbeschwerden sowie Hitzewallungen. Online stoßen die Betroffenen auf Scores wie den AMS*-Bogen nach Heinemann zur Erfassung von Tes­tosteronmangelbeschwerden. Und schon ist die Selbstdiagnose gestellt. Dabei können Erkrankungen wie Depression und/oder Adipositas per se mit unspezifischen Symptomen und somit mit einem hohen Score einhergehen, schreibt Professor Dr. Sven Diederich vom Medicover Berlin-Mitte MVZ.

Das Gesamt-Testosteron am Morgen messen

Wird dann in der Praxis tatsächlich ein erniedrigtes Testosteron gemessen, sollte man den Wert eher als Biomarker für das Grundleiden verstehen. Ein klassischer primärer oder sekundärer Hypogonadismus – mit klarer Indikation zur lebenslangen Hormontherapie – besteht nur in maximal 5 % der Fälle. Viel häufiger handelt es sich um eine funktionelle Störung, also einen normogonadotropen Hypogonadismus mit endo- oder exogenen Ursachen (s. Kasten). Allgemein versteht man unter dem Hypogonadismus bei Männern ein Defizit der Hodenfunktion, d.h. eine mangelhafte Testosteronsekretion und/oder eine gestörte Spermienproduktion.

Häufige Ursachen des Hypogonadismus

  • funktioneller: Alter, metabolisches Syndrom, Adipositas, chronische Entzündung, Depression, exzessiver Sport, Unter­ernährung, Niereninsuffizienz
  • primärer: Z.n. Hodentrauma/Orchitis/Chemotherapie/Radiatio, Hodentumor, Maldescensus testis, Anorchie, Klinefelter-Syndrom
  • sekundärer: zerebrales Trauma/Radiatio, (Z.n.) Hypophysen­tumor, Hypophysitis, Hyperprolaktinämie, Hämochromatose, Kallmann-Syndrom, Empty-Sella-Syndrom

Initial genügt die Bestimmung des Gesamt-Testosterons am Morgen. Ein Wert über 12 nmol/l schließt einen Hypogonadismus aus. Nur bei Verdacht auf eine komplexe endokrinologische Erkrankung sollten weitere Parameter (z.B. Inhibin, LH, FSH, Cortisol, TSH) angefordert werden, so der Experte. Einen Spiegel unter 12 nmol/l sollte man erneut kontrollieren und zusätzlich LH, Prolaktin sowie sexualhormonbindendes Globulin (SHBG) messen – ebenfalls zwischen sieben und elf Uhr morgens. SHBG wird z.B. durch die Die Hyperinsulinämie beim metabolischen Syndrom gehemmt. Liegt das Gesamt-Testosteron zweimal unter 8 nmol/l und LH sowie Prolaktion im Normbereich, steht die Diagnose funktioneller Hypogonadismus. Im Graubereich zwischen 8 und 12 nmol/l sollte das freie Testosteron anhand von Online-Rechnern ermittelt werden, dies ist Prof. Diederich zufolge die einzige valide Methode. Ein Wert unter 180 pmol/l spricht für eine funktio­nelle Störung. Therapeutisch gilt es, die Patienten gut aufzuklären und primär die Ursache zu behandeln, auch wenn es aufwendig sein mag. Gelingt beispielsweise eine Gewichtsabnahme durch Diät, Medikamente oder sogar bariatrische Chirurgie, bessern sich Testosteronmangel und Beschwerden meist. Grundsätzlich führt jede positive Veränderung eines beeinflussbaren Faktors zu einem Testosteronanstieg. Die alleinige Substitution dagegen hat selten einen nachhaltigen klinischen Effekt. Sogar Patienten mit Altershypogonadismus können mitunter auf die Hormontherapie verzichten, wenn man die beeinflussbaren Faktoren angeht.

Viele Kontraindikationen für die Substitution

Ein laborchemisch bestätigter funktioneller Hypogonadismus liefert bei gleichzeitig signifikantem Symptomscore zwar die Indikation zur Tes­tosteronsubstitution, kommt aber letztlich nur in Einzelfällen unter Beachtung der Kontraindikationen in Betracht, schreibt der Kollege. Absolute Kontraindikationen umfassen (Verdacht auf) Prostata- oder Mammakarzinom, Kinderwunsch und kriminelles Sexualverhalten. Zu den relativen gehören:
  • Sport, bei dem Dopingkontrollen durchgeführt werden
  • Herzinsuffizienz NYHA IV
  • ausgeprägte Akne
  • Gynäkomastie
  • benigne Prostatahyperplasie
Signifikante Verbesserungen darf man laut placebokontrollierten Studien vor allem in Bezug auf Libido und Sexualfunktion erwarten. Die Datenlage zur kardiovaskulären Sicherheit der Therapie bei funktioneller Störung ist derweil uneinheitlich. Entschließen sich Arzt und Patient gemeinsam zur Substitution, beginnt diese bevorzugt mit einem Gel. Intramuskuläre Applikationen eignen sich eher in der Dauertherapie, eine orale Gabe ist unter anderem wegen der schlechten Bioverfügbarkeit nahezu obsolet, betont Prof. Diederich. Die Effektivität muss regelmäßig überprüft werden – hier kommt der AMS-Bogen ins Spiel. Eine Risiko-Überwachung erfolgt durch rektale Untersuchungen und PSA- sowie Blutbildbestimmungen alle drei Monate. Stellt sich innerhalb von sechs bis zwölf Monaten kein klinischer Erfolg ein, sollte man die Behandlung beenden und andere Maßnahmen (z.B. psychosomatische) erwägen.

* Aging Males‘ Symptoms

Quelle: Diederich S. Arzneiverordnung in der Praxis 2021; online first