Fünf Projekte gingen ins Rennen um den diesjährigen 1A-Award. Gewonnen hat eine Idee, die Schule machen könnte.
Wenn die gewohnten Wege der medizinischen Versorgung an ihre Grenzen stoßen, geht das fast immer zulasten der Patienten. Umdenken? Schwierig. Ganz neue Wege gehen? Mühevoll und beschwerlich. Aber genau das hat die Initiative „Gesundheit für Billstedt/Horn“ in Hamburg gemacht. Für ihren einzigartigen Gesundheitskiosk wurden nun stellvertretend drei der Macher, Irena Geibel, Jonas Afonso de Faria und Dr. Gerd Fass, mit dem 1A-Award ausgezeichnet. Eine unabhängige sechsköpfige Jury hatte den Preisträger Ende vergangenen Jahres ausgewählt.
Jammern, weggehen oder handeln
Gerade in Großstädten gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Niveau der medizinischen Versorgung und der sozialen Lage. Das bekommen die Menschen in den Hamburger Stadtteilen Billstedt und Horn hautnah zu spüren: Dort kommen gerade einmal 1,25 Ärzte auf 1000 Einwohner – weniger als die Hälfte des Hamburger Durchschnitts. „Es gibt drei Möglichkeiten, hier als Arzt mit der Situation umzugehen: jammern, weggehen oder machen“, sagt Dr. Gerd Fass, Vorstandsvorsitzender des Ärztenetzwerks Billstedt-Horn, bei der Preisübergabe in Hamburg. Er und seine Mitstreiter haben sich für die letzte Variante entschieden. Mit großem Erfolg!
Was genau ist der Gesundheitskiosk? Er ist das Leuchtturm-Projekt der Initiative „Gesundheit für Billstedt/Horn“, die zwei lokale Ärzte 2012 angeschoben haben. Ziel war es, in beiden Stadtteilen bessere Strukturen für die medizinische Versorgung aufzubauen. Im Gesundheitskiosk, der in unmittelbarer Nachbarschaft eines großen Einkaufszentrums liegt, berät ein medizinisch ausgebildetes und mehrsprachiges Team Patienten vor und nach Arztbesuchen, koordiniert Behandlungsschritte und vermittelt die Betroffenen an Einrichtungen und Vereine im Stadtteil – und das alles kostenlos.
Der Ansatz „Neues Denken für ein besseres Leben“ hat die Juroren ganz besonders überzeugt. Neben dem großen Innovationswert dieses Angebotes war es vor allem die sehr starke Bedeutung für die Menschen vor Ort – gerade für sozial benachteiligte Personen mit oder ohne Migrationshintergrund. Außerdem galt es, hohe organisatorische, finanzielle und technische Hürden zu überwinden, was die Initiative „Gesundheit für Billstedt/Horn“ vorbildlich gemeistert hat.
Die Managementgesellschaft hinter dem Gesundheitskiosk hat es geschafft, ein patientenorientiertes und sektorenübergreifendes Netzwerk auch mit den sozialen Einrichtungen in der Umgebung auf die Beine zu stellen. Dazu gehören Alten- und Pflegeheime, Kliniken, Sportvereine, die Volkshochschule, ambulante fachspezifische Beratungsstellen, Patienteninitiativen sowie sozialpsychiatrische Einrichtungen.
Inzwischen sind über 170 Partner mit dabei. Im Gesundheitskiosk selbst wurden im ersten Jahr mehr als 3000 Beratungen geleistet. Häufig geht es um Gewichtsreduktion und Ernährungsberatung, Raucherentwöhnung und psychologische Fragen. Aber auch um die Suche nach Ärzten, Aufklärung und Erläuterungen von medizinischen Befunden.
Kaum Hemmschwellen für Besucher
„Ich bin in Horn und Billstedt aufgewachsen und habe hier 23 Jahre lang als gelernte Arzthelferin gearbeitet. Deshalb kenne ich die Bedürfnisse und Herausforderungen in den Stadtteilen sehr gut“, sagt Gesundheitskiosk-Mitarbeiterin Yvonne Prawitt. „Umso mehr freue ich mich jetzt in meiner neuen Rolle darauf, die Menschen vor Ort zu beraten und mein Wissen zu teilen.“ Im Gesundheitskiosk gibt es kaum Hemmschwellen für Besucher und es geht sehr international zu. Die Mitarbeiter sprechen neben Deutsch die in den Stadtteilen geläufigen Sprachen wie Türkisch, Russisch, Polnisch, Spanisch, Englisch, Portugiesisch, Dari und Farsi. Alle haben zur Vorbereitung ihrer Arbeit ein intensives Training absolviert, damit sie sich kompetent und intensiv um ihre „Nachbarn“ kümmern können.
Basis des Erfolgs bildet die enge Zusammenarbeit von Ärzten, sozialen Beratungsstellen und dem Gesundheitskiosk. Dazu soll demnächst die digitale Vernetzung von Patienten, Ärzten und Gesundheitskiosk beitragen. Vor über einem Jahr startete der Gesundheitskiosk, die Ärzte in Billstedt und Horn spüren schon jetzt eine deutliche Entlastung.
Dr. Gerd Fass hofft, dass sich gerade junge Ärzte mehr für die Arbeit in multiprofessionellen Teams begeistern lassen. „Denn mit dem Gesundheitskiosk wollen wir natürlich auch erreichen, dass unser Stadtteil für die Kollegen attraktiver wird“, so der Mediziner. Seiner Ansicht nach eigne sich das Projekt „durchaus als Blaupause für andere Problembezirke. Voraussetzung dafür sind ein funktionierendes Ärztenetz, ein mehrsprachiges Team und die Unterstützung der Krankenkassen.“
Der Kiosk und das dahinter stehende Gesundheitsentwicklungsprojekt werden in den ersten drei Jahren mit 6,3 Millionen Euro aus dem Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) finanziert. Für die beim Aufbau beteiligten drei großen Krankenkassen bedeuten die „Gesundheit für Billstedt/Horn UG“ und der Gesundheitskiosk einen Aufbruch in ein neues Denken innerhalb unseres Gesundheitssystems.