Onkologische Bewegungswissenschaft „Ich will noch mehr aussagekräftige qualitativ hochwertige Studien“
Was versprechen Sie sich von Ihrem Wechsel ans Centrum für Integrierte Onkologie (CIO)?
Professor Dr. Freerk Baumann: Meine Erwartungen beziehen sich auf drei Bereiche. Zum einen das Thema Wissenschaft: Wir wissen, dass Bewegung ein Nebenwirkungsmanager in der Onkologie ist. Trotz zahlreich vorhandener Studien, gibt es viele, relevante klinische Forschungsfragen zu beispielsweise Kachexie, sexueller Dyfunktion, beruflicher Reintegration. Deshalb bin ich daran interessiert, aussagekräftige, qualitativ hochwertige kontrollierte Studien zu dem Thema durchzuführen. Das geht natürlich nur interdisziplinär, weshalb die Arbeit am CIO ideal ist. Besonders die Grundlagenforschung ist hier sehr gut vernetzt. Und natürlich profitieren wir von der engen Zusammenarbeit mit der Deutschen Sporthochschule Köln.
Auf der anderen Seite gibt es die Lehre. Mit Blick auf die interdisziplinäre Ausrichtung meiner Arbeit kann ich sagen, dass der Schritt ans Uniklinikum richtig war. Ich glaube, es ist wichtig, das Wissen nicht nur an Sportwissenschaftler weiterzugeben, sondern auch an zukünftige Mediziner und Psychoonkologen, die es später in ihre klinischen und wissenschaftlichen Ansätze übertragen. Das betrifft dann auch den dritten Bereich, die Versorgung. Wir haben damit begonnen, am CIO eine Struktur mit speziellen Settings für Krebspatienten aufzubauen. Daraus soll nun ein eigenständiges Versorgungsmodell entstehen, das von den Kostenträgern abrechenbar ist.
Wie kamen Sie zur onkologischen Bewegungstherapie?
Prof. Baumann: Seit meiner Kindheit habe ich Respekt und großes Interesse an dem Thema Krebs. Im Biologieunterricht z.B. war ich immer besonders aufmerksam, wenn es um Genetik und Pathophysiologie ging. Fast genauso lang zurück reicht meine Leidenschaft für Sport, da ich aus einer sehr sportlichen Familie komme. Mir war somit recht schnell klar, dass ich Menschen mit Bewegung heilen möchte.
Nach meiner Aufnahme an der Deutschen Sporthochschule Köln hatte ich dann das große Glück, Professor Dr. Klaus Schüle zu begegnen, der vor 40 Jahren die ersten Krebssportgruppen gegründet hat.
Ohne ihn würde es die Stiftungsprofessur sicher nicht geben. Er war es auch, der Anfang der 2000er-Jahre Kontakt zu Professor Dr. Michael Hallek aufnahm, heute Direktor des CIO. Er integrierte das Thema schließlich ins onkologisch-klinische Setting. Beide haben die onkologische Bewegungstherapie also maßgeblich vorangetrieben. Ab diesem Zeitpunkt war für mich klar: Das ist mein Gebiet.
Körperliche Aktivität kann den Verlauf einer Krebserkrankung und damit die Prognose der Patienten beeinflussen. Welche Effekte darf man sich von gezielten Bewegungsinterventionen erhoffen?
Prof. Baumann: Aus Beobachtungsstudien wissen wir, dass z.B. Brustkrebspatientinnen durch körperliches Training nach der Diagnose die Rezidivhäufigkeit und Mortalität signifikant reduzieren konnten. Gleiches bestätigte sich für Darm- und Prostatakrebs. Diese Daten möchten wir mit kontrollierten Studien unterstreichen.
Darüber hinaus gelang es unserer Kooperationspartnerin Professor Dr. Franziska Jundt aus Würzburg und ihrem Team im Tiermodell darzustellen, dass eine Bewegungsintervention bei Mäusen mit Multiplem Myelom den Progress des Tumors blockt. Ähnliches zeigte sich bei MGUS*-Patienten: Durch ein Vibrationstraining veränderte sich die Dynamik bestimmter Biomarker der Erkrankung. Zudem stieg die Knochengesundheit. Die Frage, die sich hieran anschließt, lautet jetzt: Wie können wir mittels Bewegung, die den Knochen gezielt belastet, dessen Strukturen dazu bringen, den Krankheitsprogress zu hemmen.
In einem weiteren aktuell laufenden Projekt untersuchen wir im CIO Köln mit Prof. Dr. Christian Pallasch inwiefern wir durch Training die Ansprechrate der Immuntherapie erhöhen können. Zudem möchten wir die damit verbundenen Mechanismen auf Immunebene verstehen lernen, und bauen dazu derzeit einen eigenen Arbeitsbereich auf.
Ein Meilenstein Ihrer Arbeit war die Entwicklung der OTT, der „Onkologischen Trainings- und Bewegungstherapie“. Können Sie das Konzept kurz erklären?
Prof. Baumann: Mir war schon früh klar, dass wir eine spezielle Versorgungsstruktur für Krebspatienten brauchen. 2010 habe ich diese Idee in meine Arbeitsgruppe getragen und gesagt: Lasst uns dazu ein Konzept entwickeln! Das Ergebnis haben wir 2012 in die „Praxis“ der Uniklinik Köln integriert. Bei der OTT handelt es sich um eine personalisierte Therapie für Krebspatienten vor dem Hintergrund individueller Module. Praktisch sieht das so aus, dass wir mit den Betroffenen in einen Dialog gehen, in dem wir gemeinsam die Erkrankung, Therapien und deren Nebenwirkungen besprechen. Diese überführen wir dann in ein Risiko- und Chancenprofil. Nach einer Anamnese steht die Frage: An welchem Ziel wollen wir arbeiten, dem wir ein maßgeschneidertes Bewegungstherapieprogramm zuordnen.
Das kann eine ausgeprägte Fatigue sein oder Polyneuropathien, Depression oder Nebenwirkungen von Hormontherapien. Aus jedem Ziel ergibt sich ein Modul mit einem eigenen bewegungstherapeutischen Programm aus z.B. Ausdauer, Kraft, Vibrationstraining oder Koordination.
Der „Vater der Krebssportgruppen“ wird 80
Prof. Dr. Freerk Baumann
Die Effekte der Bewegungstherapie wurden in vielen Studien nachgewiesen und finden sich sogar in S3-Leitlinien. Trotzdem werden die Kosten bisher nicht übernommen.
Prof. Baumann: Das empfinde ich offen gesagt als Skandal! Es ist mir absolut unverständlich, weil wir im Grunde alles haben, um eine Anerkennung bei den Kostenträgern zu erhalten. Mit 800 randomisierten kontrollierten Studien besteht eine gute Evidenz für die Bewegungstherapie – die höchste unter allen Supportivtherapien in der Onkologie. Es gibt sogar Versorgungsmodelle, die zeigen, wie eine Implementierung in der Praxis funktioniert. In einer eigenen Akademie haben wir bereits 400 OTT-Therapeuten qualifiziert, die teilweise aus anderen europäischen Ländern zu uns kommen.Und es ist eine eigene S3-Leitlinie „Bewegungstherapie in der Onkologie“ geplant, die Sie koordinieren.
Prof. Baumann: Genau, auch dafür haben wir die Bewilligung. Ich bin sehr zuversichtlich, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Onkologische Bewegungstherapie in die Regelversorgung aufgenommen wird.* Monoklonale Gammopathie unbestimmter Signifikanz
Interview: Maria Fett