Gestörte Hypoglykämie-Wahrnehmung (K)ein Gefühl von Dringlichkeit
Diabetespatienten mit einer gesunden Hypoglykämie-Wahrnehmung nehmen ab einem Glukosewert von 80 oder 90 mg/dl erste subtile neurologische Symptome wahr. Sinkt der Wert auf 60–70 mg/dl, setzt die hormonelle Gegenregulation ein. Zwischen 50 und 60 mg/dl zeigen sich adrenerge Symptome, unter einem Wert von 50 mg/dl wird das Gehirn nicht mehr ausreichend mit Glukose versorgt – auf eine funktionierende Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle ist also kein Verlass mehr. Rutscht der Glukosewert unter 30 mg/dl, kann es zu Bewusstlosigkeit und Konvulsion kommen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt ist fremde Hilfe zwingend erforderlich.
„Viele Hypoglykämien verlaufen unbemerkt. Sie werden verschlafen, nicht wahrgenommen und scheinen keine große Rolle zu spielen“, erläuterte der Psychologe Béla Bartos von der Kinderklinik St. Gallen. Häufige Unterzuckerungen vermindern jedoch adrenerge, also auf (Nor-)Adrenalin beruhende, Symptomreaktionen und schränken die Glukoneogenese ein. Somit verkürzt sich das kritische Zeitfenster, in dem man die Glukosewerte von allein wieder in einen unkritischen Bereich bringen kann. „Damit verändert sich auch das Verhalten: Wenn Symptome fehlen, empfindet man keine Dringlichkeit“, betonte Bartos.
Gruppenschulungen und Einzelgespräche
Vor allem Kinder und Jugendliche hätten oft Schwierigkeiten, ihren aktuellen Blutzuckerwert zutreffend zu schätzen. Daher sollten sie üben, spezielle körperliche Befindlichkeiten und wechselnde Veränderungen in Verhalten, Denken und Fühlen als mögliche Anzeichen einer Hypoglykämie zu erkennen, riet der Psychologe. Ein guter Rahmen hierfür seien sogenannte Hypoglykämie-Wahrnehmungstrainings. Diese finden in altershomogenen Kleingruppen von fünf bis sieben Kindern statt und werden in die Patientenschulung integriert.
Anders sieht es aus, wenn psychische Ursachen hinter den schweren Unterzuckerungen stecken. „Die Bereitschaft, auf Symptome zu achten, ist wichtig für die tatsächliche Wahrnehmung. Diese hängt auch davon ab, ob man die Erkrankung akzeptiert. Manchmal werden Anzeichen zwar erkannt, aber nicht gleich behandelt. Oder sie werden gespürt, aber situativ zurechtgedacht.“
Manche Kinder reagieren nicht auf mildere Anzeichen, sondern warten auf deutlichere Symptome. Hinter diesem „Hypo-Surfen“ könne die Erwartung auf einen Vorteil stecken, meinte Bartos, zum Beispiel mehr Aufmerksamkeit zu bekommen oder „außerhalb der Reihe“ zu naschen. „In diesen Fällen hilft weniger eine Gruppenschulung, sondern eher das Einzelgespräch“, erklärte er.
Ein weiterer Grund könne eine übersteigerte Angst vor hohen Glukosewerten und dem damit verbundenen Risiko für Folgeerkrankungen sein, sagte Professor Dr. Pratik Choudhary von der University of Leicester. „Wenn ich meine Zuckerwerte nicht niedrig halte, werde ich an Folgeerkrankungen sterben. Für manche Menschen mit Diabetes ist das der dominante Leitsatz, der natürlich auch ihren Umgang mit Hypoglykämien beeinflusst.“
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