Kinder lernen Medienkonsum von ihren Eltern – mit allen Konsequenzen
Tablets in Grundschulen und Kindertagesstätten? Ein kurzer Blick ins Netz genügt, um zu erkennen: An dem Thema scheiden sich die Geister. Während die „Experten“ der einen Seite bereits für die Kleinsten eine flächendeckende Digitalisierung fordern, argumentieren die „Experten“ der anderen vehement dagegen. Nicht einmal die Neurowissenschaft könne abschätzen, wie sich die frühkindliche Medienexposition auf Neuroplastizität und Hirnentwicklung auswirke.
Schon Säuglinge richten ihren Blick automatisch auf flimmernde Bildschirme und reagieren auf auditive Stimuli, erklärte Dr. Frank W. Paulus, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Uniklinikums Saarland. Laut einer britischen Untersuchung kommt die Hälfte der 6–11 Monate alten Babys täglich (!) mit Touchscreengeräten in Kontakt. Das ist ein Alter, in dem die neuronale Plastizität erwiesenermaßen hoch und von frühen Lernprozessen geprägt ist, Stichwort Konditionierung. Und die Touchscreennutzung steigt bis zum dritten Lebensjahr auf über 90 % an.
Aber nicht nur die unmittelbare zeitige Medienexposition wirkt auf die Kleinen. Ist die Mutter beispielsweise damit beschäftigt live ihre Stillerfahrung per Whatsapp zu teilen, wird sie Signale ihres Kindes teilweise übersehen und nicht angemessen darauf reagieren können. Die Wissenschaft hat wiederholt gezeigt, wie wichtig gerade jene frühen Interaktionen für Säuglinge sind. Um sich adäquat entwickeln zu können, müssen sie zu jeder Zeit spüren, dass jemand „da“ und auch emotional verfügbar ist. Sich ungestört mit dem Kind zu beschäftigen bedeutet, alles andere erst einmal zur Seite zu schieben, betonte der Psychologe.
Später im Leben ahmen Kleinkinder das Verhalten ihrer Bezugspersonen nach. Sie verinnerlichen beispielsweise den häuslichen Medienkonsum und übernehmen diese Gewohnheiten, erklärte Dr. Paulus weiter. In diesem Kontext decken wissenschaftliche Studien immer wieder Zusammenhänge zwischen einer erhöhten Medienexposition der Kinder und mittelschweren bis schweren Problemen in der Selbstregulation auf, etwa beim Schlafen sowie bezüglich Aufmerksamkeit und Emotionen. Neun Monate alte Säuglinge, die sich nur schwer von allein beruhigen konnten, waren zum Beispiel täglich signifikant länger mit Medien in Kontakt als unauffällige gleichaltrige.
Behinderung der sozialen und körperlichen Entwicklung
Diese Entwicklung setzt sich im Vorschulalter fort. Reihenweise finden sich in der Literatur Hinweise darauf, dass elektronische Medien die Kinder ablenken, überstimulieren und eine normale soziale und körperliche Entwicklung behindern. So daddelt ein Drittel am liebsten allein und nur 15 % mit Freunden. Mehr als ein Fünftel hockt im Einschulungsalter täglich bzw. mehrfach pro Woche vor Computer oder Spielekonsole, Jungen mehr als Mädchen. Wobei die Qualität der Inhalte oder der anfangs beschriebene zusätzliche Medienkonsum in der Kindertagesstätte noch gar nicht berücksichtigt wurde.
Medienmündigkeit beginnt im Elternhaus
- < 18 Monate: grundsätzlich keine Medienerfahrung
- 18–24 Monate: pädagogisch hochwertige Medien zusammen mit einer Bezugsperson (keine selbstständige Nutzung!); Medien nicht zur Beruhigung oder als „Babysitter“ verwenden
- 2–5 Jahre: die tägliche Bildschirmzeit auf max. eine Stunde und hochwertige Inhalte limitieren, am besten gemeinsam mit einer Bezugsperson
- ab 6 Jahre: der Mediennutzung weiterhin konsequente zeitliche Grenzen setzen
Bis zur Schule sind Kinder nicht medienmündig
Für Dr. Paulus sind Kinder bis ins Vorschulalter aus entwicklungspsychologischer Sicht nicht medienmündig. Sie können den eignen Umgang mit elektronischen Angeboten noch nicht reflektieren und gegebenenfalls selbst begrenzen. An diesem Punkt sieht er vor allem die Eltern in der Pflicht. Aufgabe der Kollegen und Frühförderung sei es, diese angemessen darüber aufzuklären.Quelle: 1. Jahrestagung der VIFF*
* Vereinigung für interdisziplinäre Frühförderung