Psychisch krank in die Obdachlosigkeit
Offizielle Obdachlosenstatistiken gibt es nicht. Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) wachsen die Zahlen seit 2008 kontinuierlich und wurden in den letzten Jahren durch wohnungslose Flüchtlinge noch einmal gepusht. Auch der Anteil an EU-Binnenzuwanderern ist unter den Wohnungslosen hoch, der deutscher Mitbürger steigt. Für dieses Jahr prognostiziert die BAGW einen Zuwachs obdachloser Menschen auf bis zu 1,2 Millionen, berichtete Dr. Stephanie Schreiter von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Berlin.
Die Politik habe versagt, der Bestand belegungsgebundener Sozialwohnungen sei von 1990–2016 um 60 % gesunken, kritisierte sie. Besonders oft von Wohnungslosigkeit betroffen sind stationär behandelte Psychiatriepatienten, wie eine Studie im Berliner St. Hedwig-Krankenhaus zeigte.
Im Schnitt seit sechs Jahren auf der Straße
Nur 60 % der Befragten lebten in den eigenen vier Wänden, 16 % wohnten in therapeutischen Einrichtungen und 12 % bei Freunden oder Verwandten. Fast ebenso viele (11,5 %) hatten überhaupt kein Dach über dem Kopf – und das im Mittel bereits seit sechs Jahren, betonte Dr. Stefan Gutwinski, Psychiater am St. Hedwig. Die Mehrheit (88 %) der Patienten gab ihre psychische Erkrankung als Hauptursache für den Verlust der Wohnung an.
Betrachtet man die Gruppe der Obdachlosen in Deutschland, so findet man tatsächlich häufig psychisch Kranke. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung liegen die Prävalenzen von Alkohol- und Drogenabhängigkeit, Persönlichkeitsstörungen sowie psychotischen Erkrankungen deutlich höher.
Dies bestätigt auch Professor Dr. Josef Bäuml vom Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München. Er stellte die Ergebnisse aus „SEEWOLF“* vor, einer der bis dato größten Studien zum Thema Wohnungslosigkeit. Teil nahmen 232 zufällig ausgewählte Personen aus Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe München, aus Notunterkünften und Pensionen der Stadt.
Jeder darf über den Wohnort selbst entscheiden
- a. Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben wollen. Sie dürfen nicht dazu verpflichtet werden, in besonderen Wohnformen zu leben.
- b. Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten erhalten, zu Hause oder in Einrichtungen. Darin eingeschlossen ist eine persönliche Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und zur Verhinderung von Isolation notwendig ist.
- c. gemeindenahe Dienstleistungen und Einrichtungen der Allgemeinheit auch Menschen mit Behinderungen zur Verfügung stehen und ihren Bedürfnissen Rechnung tragen.
Quelle: Behindertenrechtskonvention
Bayern hat schon auf SEEWOLF reagiert
„Es ist unser Job, ihnen so zu helfen, dass sie nicht auf der Straße landen“, konstatierte Prof. Bäuml. Um nicht frühzeitig abgehängt zu werden, braucht es deshalb präventive und fördernde Maßnahmen – und zwar von klein auf. Er forderte:- Prävention, frühe Spezialförderung und Unterstützung für Risikofamilien
- ausreichend lange psychiatrische Behandlungen, auch von komplizierten Patienten
- Kooperation von Wohnungslosen- und Psychosozialhilfe, Kinder- und Jugend- sowie der Erwachsenenpsychiatrie
*Seelische Erkrankungen in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe im Großraum München (SEEWOLF)
Quelle: Kongressbericht, 19. Interdisziplinärer Kongress für Suchtmedizin