Social-Media-Forschung: Arzt fordert „behutsame Zensur“ im Internet
Warum sollte das digitale Dampfablassen nicht vor Hass-Kriminalität schützen? Ein neutraler oder gar mindernder Effekt auf Gewalttaten ließe sich durchaus plausibel herleiten: Wer seine Emotionen an der Tastatur auslebt, erreicht eine Art Katharsis – er befreit sich von psychischen Konflikten. Der nachlassende innere Druck hätte somit ein positives Gesamtresultat, erklärt der Mediziner und promovierte Philosoph Professor Dr. Dr. Manfred Spitzer von der Abteilung für Psychiatrie des Universitätsklinikums Ulm.
Empirische Sozialforschung mit Brotaufstrich
In der Realität bricht diese Argumentation zusammen, wie der Kollege an mehreren Untersuchungen verdeutlicht. Eine davon bezieht sich auf die Facebookpräsenz der AfD.1 Mehr als 500 000 Menschen haben die Seite in dem sozialen Netzwerk abonniert. Zum Vergleich: Die CDU kommt auf etwa 215 000 Follower, die Linke auf knapp 268 000.
Anhand von Beiträgen, Kommentaren und Gefällt-mir-Angaben wurde der Zusammenhang von Hass-Inhalten und kriminellen Handlungen zwischen 2015 und 2017 analysiert. Dabei machte man sich eine Besonderheit des AfD-Accounts zunutze. Im Gegensatz zu den Kanälen anderer Parteien können Mitglieder dort direkt ihre Meinung äußern. So fanden sich zahlreiche flüchtlingsfeindliche Statements, abgegeben von insgesamt 93 806 Nutzern:
- 176 153 Meinungsäußerungen (Posts)
- 290 854 Kommentare
- 510 268 Zustimmungen (Likes)
Im gleichen Betrachtungszeitraum kamen 3335 Gewaltdelikte gegen Flüchtlinge in 4466 deutschen Gemeinden zusammen, darunter 534 Körperverletzungen und 225 Brandstiftungen.
Die Forscher gingen davon aus, dass soziale Medien rassistische Ressentiments verstärken und potenzielle Täter zum Handeln verleiten könnten, schreibt Prof. Spitzer. Tatsächlich waren verbale Attacken auf der AfD-Seite mit dem anschließenden Auftreten hassmotivierter Delikte assoziiert. Die ortsbezogenen Nutzerdaten zeigten: Je stärker die Facebookaktivität in einer Gemeinde, desto mehr kriminelle Akte.
Natürlich bedeutet Korrelation nicht gleich Kausalität, so der Ulmer Kollege. Nichtsdestotrotz hält er eine kausale Beziehung zwischen der Verbreitung von Hass in sozialen Medien und der Gewaltkriminalität für „sehr wahrscheinlich“. Zumal die Wissenschaftler weitere Evidenz dafür liefern, u.a. mithilfe der Facebookpräsenz von Nutella.
Mit knapp 32 Millionen Likes zählt die Seite zu den beliebtesten hierzulande. Fans des Schokoaufstrichs repräsentieren einen breiten sozioökonomischen Hintergrund, was Aussagen über den Gebrauch der Online-Plattform in der Allgemeinbevölkerung ermöglicht. Empirische Sozialforschung nennt man das. Theoretisch sollten Social-Media-affine Regionen durchweg mehr Social-Media-Inhalten ausgesetzt sein – das bedeutet (unfreiwillig) auch vermehrt mit flüchtlingsfeindlichen Aussagen in Kontakt kommen.
Vorhersagen im Brexit-Wahnsinn
Kurznachrichtendienst Twitter als Gerüchte-Turbo
Faktisch stieg in Gemeinden mit vielen im Netz aktiven Nutella-Liebhabern die Zahl der Hass-Delikte, wenn deutschlandweit im gleichen Zeitraum negative Statements auf den AfD-Account gekleistert wurden. Diese Assoziation spricht Prof. Spitzer zufolge dafür, dass die allgemeine Facebooknutzung (und nicht allein die der AfD-Seite) als Vermittler zwischen Worten und Taten dient. Twitter arbeitet als Propagandamotor ähnlich effektiv. Für den Experten ist der Kommunikationsdienst ein Gerüchte-Turbo. Falschmeldungen würden nachweislich schneller und weiträumiger die Runde machen als Wahrheiten. Folglich wundert es nicht, dass hinter einer Studie zu rassistischen und islamfeindlichen Tweets in Großbritannien ein vergleichbares Fazit steht wie hinter der deutschen Untersuchung: Mehr Hetze gleich mehr Kriminalität. Nichts gegen diesen Hass zu unternehmen, wäre verrückt, urteilt Prof. Spitzer. In Deutschland trat vor etwa zwei Jahren das Netwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) in Kraft. Seitdem müssen soziale Online-Medien rechtswidrige Posts nach Kenntnis und Prüfung entfernen bzw. den Zugang zu ihnen sperren. Der Ulmer Kollege unterstützt diese „behutsame Zensur“, bei der der Rechtsstaat Raum lassen muss für angebrachte Kritik und die Freiheit der Rede. Von den Bürgern fordert er, besonnen zu handeln, Hass von Kritik zu unterscheiden und die Freiheit zu verteidigen.1. dx.doi.org/10.2139/ssrn3082972, Version vom 03.11.19
Quelle: Spitzer M. Nervenheilkunde 2019; 38: 794-802; DOI: 10.1055/a-0952-6895