Multiple Sklerose Undefinierte Prodromalphase
Schon Jahre bevor eine Multiple Sklerose klinisch in Erscheinung tritt, ist die Krankheit aktiv. So lassen sich in Serumproben von Patienten bereits sechs Jahre vor der Erstmanifestation erhöhte Spiegel von Neurofilament-Leichtketten als Marker neuroaxonaler Schäden nachweisen. Dies ergab eine US-amerikanische Fall-Kontroll-Studie mit 30 MS-Patienten und 30 Kontrollen.
Die MRT kann läsionale Veränderungen im ZNS zu einem Zeitpunkt aufdecken, an dem MS-Patienten noch gar keine oder nur unspezifische Symptome haben. Man spricht dann von einem radiologisch-isolierten Syndrom (RIS). Das Konzept ist seit Langem anerkannt, erklärte PD Dr. Christiane Gasperi von der Klinik für Neurologie am Klinikum rechts der Isar in München. Sind mit dem RIS unspezifische Symptome assoziiert, könne man das als klinisches Prodrom werten. Zumindest teilweise seien diese Symptome durch nicht erkannte Schubereignisse erklärbar.
Letztere dürften auch hinter so mancher Beobachtung stecken, die in Studien zum MS-Prodrom gemacht wurde. So hat man in einer schwedischen Registerstudie mit 6.000 MS-Kranken und 60.000 Kontrollpersonen gesehen, dass die Patienten schon in den 15 Jahren vor der Erstdiagnose gehäuft krankheitsbedingt am Arbeitsplatz fehlten. Drei Jahre vor der Diagnosestellung bezogen sie im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich häufiger eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Diese Ergebnisse legen zwar den Verdacht nahe, dass es ein MS-Prodrom geben könnte. Allerdings hat die Arbeit einen Haken: Die Diagnose Multiple Sklerose stellte man im Studienzeitraum 2001–2012 anhand der damals gültigen Kriterien. D.h., die Krankheit wurde vermutlich später erkannt als es heute der Fall ist, gab Dr. Gasperi zu bedenken. Darauf deute auch das mit etwa 40 Jahren relativ hohe Durchschnittsalter der Patienten zum Diagnosezeitpunkt.
In einer kanadischen Studie lag das mittlere Alter der MS-Patienten bei Diagnose sogar bei 43 Jahren. In dieser Arbeit hatte man die Versorgungsdaten von mehr als 14.000 MS-Patienten mit denen von mehr als 70.000 Kontrollen verglichen. Berücksichtigt wurde der Zeitraum 1984 bis 2014. In den fünf Jahren, bevor sich ein erster Hinweis auf eine demyelinisierende Erkrankung ergab, kam es bei den späteren Patienten zu mehr Krankenhaus- und Arztbesuchen sowie zu häufigeren medikamentösen Therapien. Dies bestätigte sich jedoch in einer kleineren klinischen Kohorte mit 3.200 MS-Patienten und 16.000 Kontrollen, für die man Arztunterlagen sichten konnte, nicht. Das mittlere Alter der MS-Patienten zum Diagnosezeitpunkt lag in diesem Kollektiv bei 36,5 Jahren und entsprach damit eher dem typischen Alter bei Manifestation einer MS.
In einer Folgestudie ging die gleiche Arbeitsgruppe der Frage nach, mit welchen Erkrankungen sich die späteren MS-Patienten in den fünf Jahren vor der Diagnose vorgestellt hatten. In 16 von 17 ICD-10-Kapiteln gab es für die MS-Patienten höhere Kodierungsraten als für die Kontrollgruppe. Am deutlichsten war der Unterschied bei „Krankheiten des Nervensystems“, gefolgt von psychischen Störungen. In der klinischen Kohorte waren die Unterschiede viel diskreter und bezogen sich nur auf die ICD-10-Kapitel Sinnesorgane (Auge und Ohr), anderenorts nicht klassifizierte Symptome, muskuloskelettales System und Krankheiten des Blutes. Auch die kanadischen Daten wecken daher den Verdacht, dass die Beobachtungen in der Gesamtkohorte eher mit einer verpassten MS-Diagnose als mit Prodromi zu tun haben, meinte Dr. Gasperi.
Zu dem gleichen Schluss kam die Kollegin in einer eigenen Arbeit. Ausgewertet wurden die ambulanten Versorgungsdaten der KV Bayerns. Dabei verglichen Dr. Gasperi und Kollegen die Angaben zu 10.262 MS-Kranken mit denen von rund 190.000 Kontrollen (98.423 Patienten mit Psoriasis, 15.502 mit Morbus Crohn und 73.430 ohne eine Autoimmunerkrankung). In den fünf Jahren vor der Erstdiagnose fanden sich bei den späteren MS-Patienten 43 ICD-10-Codes signifikant häufiger als bei den Kontrollen. Viele waren mit einem Schubereignis vereinbar, darunter Sensibilitätsstörungen, Sehstörungen, Schwindel, Auffälligkeiten von Gang und Mobilität. Deshalb schlossen die Wissenschaftler in einer Sensitivitätsanalyse jene Patienten aus, die womöglich schon ein Schubereignis vor der Diagnosestellung erlitten hatten. Letztlich gab es keinen einzigen ICD-10-Code mehr, der häufiger codiert worden war. Somit ergaben sich keine Hinweise auf ein klinisches Prodrom der MS.
Dies war in einer britischen Untersuchung, in der die Autoren ebenfalls eine Sensitivitätsanalyse durchführten, etwas anders. Die Forscher nutzten ausschließlich Daten von Patienten, deren MS vor dem 40. Lebensjahr (medianes Alter 34 Jahre) diagnostiziert worden war und bei denen zuvor kein Verdacht auf ein demyelinisierendes Ereignis bestand. Für dieses Kollektiv ergaben sich in den zehn Jahren vor der MS-Diagnose höhere Kodierungsraten für autonome Symptome, Fatigue, Schmerz und psychiatrische Erkrankungen. Und noch eine Studie deutet auf prodromale MS-Symptome hin: Bei Männern mit RRMS konnten die Autoren bis zu zwei Jahre vor der Diagnose ein schlechteres Abschneiden in kognitiven Tests nachweisen. Bei denjenigen mit PPMS war dies sogar bis zu 20 Jahre vor der Erstmanifestation der Fall.
Wie lautet also das Fazit von Dr. Gasperi? Ihrer Auffassung nach handelt es sich bei dem, was man bisher als mögliches Prodrom gewertet hat, zumindest teilweise um nicht erkannte Schübe. Allerdings scheint es auch unspezifische, vielseitige Symptome zu geben, die vor dem ersten Schubereignis auftreten. „Wir benötigen eine Definition für die prodromale Phase“, erklärte Dr. Gasperi. Dann sei es potenziell möglich, eine MS früher zu erkennen und zu behandeln.
Quelle: DGN-Kongress 2023