Coronaimpfung in Krisengebieten: „Wir sehen eine dramatische Ungleichbehandlung“

Interview , Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Reiche Länder sichern sich große Mengen Impfstoff, während es in armen Ländern schon am Sauerstoff zur Beatmung mangelt. Reiche Länder sichern sich große Mengen Impfstoff, während es in armen Ländern schon am Sauerstoff zur Beatmung mangelt. © MR – stock.adobe.com

Der Internist Dr. Tankred Stöbe ist 18 Jahren für „Ärzte ohne Grenzen“ in Krisengebieten im Einsatz. Der ehemalige Präsident der Hilfsorganisation berichtet im Interview über Erfahrungen bei seinen Einsätzen.

Angesichts der medizinischen Möglichkeiten hierzulande werden Ihnen Defizite in der dritten Welt gewiss besonders deutlich.  

Dr. Stöbe: Vielleicht zwei Beispiele: Im Jemen, wo ich letzten Sommer war, gab es gar keine spezialisierte Behandlung für COVID-19-Patienten. Einrichtungen wurden geschlossen aus Angst vor dem Virus oder weil Mitarbeiter erkrankt waren. Im Mai öffnete dann „Ärzte ohne Grenzen“ im südlichen Jemen die erste COVID-Klinik – und wir wurden förmlich überrannt. Der Bedarf war riesig, aber schon die Versorgung mit Sauerstoff schwierig. Wir mussten diesen durch die Stadt transportieren – innerhalb eines aktiven Krieges. Auch in Malawi, meiner neuen Station, gibt es keine Intensivbehandlungsmöglichkeit mit Beatmungsgeräten. Wir sehen deutliche Limitationen und viel weniger Behandlungsoptionen. 

Für uns hier kommt der Sauerstoff immer aus zentraler Versorgung. Uns sind solche Vorteile oft gar nicht bewusst. In vielen strukturarmen Ländern ist das nicht so. Wenn Sauerstoff überhaupt verfügbar wird, dann durch eine lokale Produktion oder das Heranschaffen von Sauerstoffzylindern. 

Wir als Team haben auch Sauerstoffkonzentratoren, die Sauerstoff aus der Luft konzentrieren, aber diese Geräte mit fünf Litern kommen schnell an ihre Grenzen, wenn COVID-Patienten 15 oder 20 Liter pro Minute brauchen. Es zeigen sich letztlich ganz banale logistische Hürden. Auch eine Infrastruktur für Intensivmedizin ist meist nicht vorhanden, von ECMO- und Dialysegeräten gar nicht zu sprechen. 

In wie vielen Ländern waren Sie bisher humanitär tätig?

Dr. Stöbe: Es sind 23 Einsätze für „Ärzte ohne Grenzen“ in 18 Ländern. Im Rahmen von COVID-19 ist es der dritte Einsatz. Ich war vor einem Jahr in Südostasien, wo unser Team geholfen hat, Corona-Schutzmaßnahmen einzuführen. Danach im Jemen ging es um die Kriegsversorgung, wobei Corona auch eine Rolle spielte. Jetzt in Malawi geht es nur um die Pandemie. Seit einigen Tagen steigen die Infektionszahlen in Malawi dramatisch und die Krankenhäuser sind voll. Da werden wir als kleines Team erst einmal versuchen, die bestehenden Strukturen zu unterstützen, bei der Triage zu helfen, beim Separieren der Patienten.

Sie waren mit „Ärzte ohne Grenzen“ auch mit den Auswirkungen von Ebola konfrontiert. Lassen sich aus Ihrer Sicht zur Corona-Pandemie Parallelen ziehen?

Dr. Stöbe: Epidemien haben gemeinsam, dass die Ausbreitung der Erreger schnell gestoppt werden muss. Ebola ist sehr tödlich, 60 bis 90 % der Infizierten sterben. Wir mussten jeden Quadratzentimeter Hautfläche beim Einsatz schützen. Jede Epidemie folgt ihren eigenen Gesetzen. Aber Länder können von Erfahrungen mit Pandemien profitieren. Das zeigen afrikanische, aber auch asiatische Länder. In Asien gab es vor 18 Jahren SARS-CoV-1, und das Wissen darum hilft auch heute. Europa sollte medizinisch nicht arrogant sein, sondern nach Afrika und Asien schauen und lernen. 

Es gibt auch derzeit schwer getroffene Regionen wie Brasilien ohne pandemische Erfahrungen in der Vergangenheit. 

Dr. Stöbe: Der Verlauf einer Pandemie hängt auch vom Vertrauen der Bevölkerung in ihre Regierung und von der Regierung selbst ab. In Brasilien schützt der Präsident sein Land eben nicht adäquat. Politik ist ein Risikofaktor, das zeigen aber auch andere Staaten.

Wie stehen die Religionen und ihre Prediger zur Pandemie, unterstützen diese vorwiegend Schutzmaßnahmen? Welche Erfahrungen haben Sie mit Religionsvertretern gemacht?

Dr. Stöbe: Vertreter von Religionen haben einen sehr starken Einfluss auf ihre Gemeinde. Das betrifft aber nicht nur afrikanische Religionen, wir sehen das auch bei den Evangelikalen in Nordamerika. Glaube ist manchmal stärker als Wissen. Wir versuchen immer, mit den Religionsführern zusammenzuarbeiten. Wir suchen Kompromisse, damit es zumindest von einer Leugnung des Virus zu einer Akzeptanz von Schutzmaßnahmen kommt. Das ist eigentlich Aufgabe eines Landes, wir sehen uns hier nur als Hilfesteller.

Wie ist die Corona-Testlage in Dritte-Welt-Ländern?

Dr. Stöbe: Die ist meist auch schwierig, es gibt zu wenige Testmöglichkeiten und die Wege zu den Laboren sind weit. Auch die Informationsrückgabe ist ein Problem. Aber Testen ist nur eine Hürde von vielen. Wir vermuten in Malawi zum Beispiel die südafrikanische Mutante, aber es wird im ganzen Land nicht gensequenziert. Proben müssen zur Auswertung erst nach Südafrika geschickt werden. Letztlich bleibt uns oft nur die Propagierung der grundlegenden Vorsorgemaßnahmen.

Bei Impfstoffen sieht es sicher nicht besser aus. Wer am besten zahlt, wird bei Lieferungen bevorzugt. Das ist fatal für arme Staaten. 

Dr. Stöbe: Es gibt derzeit wohl kaum einen Bereich, wo der Spalt zwischen reichen und armen Ländern so auseinanderbricht wie bei Impfungen. Wir sehen eine dramatische Ungleichbehandlung. Die WHO gab kürzlich bekannt, dass in den ärmsten Ländern Afrikas gerade einmal 25 Dosen verimpft wurden. In den reichen Ländern sind es schon über 40 Millionen. Die Impfstoffe von BioNTech/Pfizer sind vollständig von reichen Ländern aufgekauft worden. Da bleibt nichts übrig für Menschen in Krisengebieten oder auf der Flucht. Hier ist internationale Solidarität gefordert.

In Zusammenarbeit mit der internationalen Impfallianz Gavi ist die  Unicef der weltweit größte Einkäufer von Impfstoffen. Was bedeutet das praktisch? 

Dr. Stöbe: Dazu gehört auch die Impfplattform Covax. Die Grundidee ist gut, aber bisher ist es nur bei Versprechungen und vagen Andeutungen geblieben. Es ist nicht abzusehen, wann diese Konsortien tatsächlich Impfstoff haben werden und dieser in den Ländern verimpft wird. Auch hier müssen wir den öffentlichen Druck hochhalten.

Korruption hat wahrscheinlich ebenfalls eine nicht unbedeutende Auswirkung darauf, wer in der Impfreihenfolge vorn steht. 

Dr. Stöbe: Das kann schon sein, aber man muss nicht auf die Korruption in armen Ländern schauen. Schauen Sie, wie monopolitisch wir im reichen Norden mit Impfdosen umgehen. Hier ist mein Appell ganz klar: Wir müssen auch die Patente hinterfragen! Warum ist es möglich, dass eine Handvoll Firmen auf dem Rücken der Pandemie Milliardengewinne generiert, statt die Patente freizugeben? Es sollte geschaut werden, ob nicht weitere Firmen in die Produktion einsteigen können. Kapitalinteressen stehen noch deutlich im Vordergrund. Korruption in armen Ländern ist derzeit nicht das Hemmnis, um dort zu impfen. Es ist die fehlende Verfügbarkeit von Impfstoffen.

Impfdefizite in Entwicklungsländern gibt es schon seit Langem. 

Dr. Stöbe: Wir sehen jetzt die Wiederholung eines chronischen Problems. Bei HIV/AIDS hat es zehn Jahre gedauert, bis Länder in Afrika die Medikamente erhalten haben, die in reichen Ländern längst verfügbar waren. Es gibt Berechnungen, wie viele Hunderttausende Leben bei früherer Belieferung hätten gerettet werden können. Hier hat sich die Pharmaindustrie weltweit unzählige Male versündigt. Das muss so deutlich gesagt werden.

Dass eine in Europa öffentlich geförderte Impfstoffproduktion gewinnbringend verkauft wird, dieses Modell trägt nicht, wenn es weltweit in Ländern um die Existenz geht. Hier sind Lösungen durch die Politik zu suchen. Noch sehen wir diese nicht.

Wen meinen Sie mit „die Politik“?

Dr. Stöbe: In Deutschland natürlich die Bundesregierung. Sie muss Druck auf die Hersteller aus­üben. Die Produzenten lassen sich nicht in die Karten gucken. Niemand weiß, was hat es gekos­tet, einen Impfstoff zu entwickeln und herzustellen. Bei Millionen öffentlicher Gelder für die Förderung besteht ein Anrecht auf Offenlegung, wie groß der Anteil für die Forschung wirklich ist und wie groß die Gewinne sind. 

Welche weltweite Entwicklung im Umgang mit SARS-CoV-2 erscheint Ihnen realistisch? Erreichen wir 2021 eine Herdenimmunität oder überrollen uns Mutationen? Oder kurz: Wie ist Corona global in den Griff zu bekommen?

Dr. Stöbe: Wir stehen tatsächlich am Scheidepunkt Herdenimmunität/Impfen versus Genmutationen. Es gibt ja schon erste Vermutungen, dass sich Mutanten nicht nur schneller verbreiten, sondern dass sie auch tödlicher sein können. Wenn das so passiert, dann haben wir einen neuen Wettlauf gegen die Zeit. Das heißt, wir müssen schnell impfen, denn zurzeit gibt es noch Hinweise, dass Impfstoffe auch gegen die bisher bekannten mutierten Viren schützen. 

Hier ist jede Kraftanstrengung geboten – auch von jedem Bürger, was das Einhalten von Schutzregeln betrifft. Unabhängig von anderen Maßnahmen ist unser individuelles Verhalten ganz entscheidend. Wir haben es in der Hand.

Medical-Tribune-Interview

Dr. Tankred Stöbe: Internist, Berlin, „Ärzte ohne Grenzen“ Dr. Tankred Stöbe: Internist, Berlin, „Ärzte ohne Grenzen“ © Barbara Sigge/ Ärzte ohne Grenzen