Pflege von Drogenabhängigen „Das ist kein Ort, um würdig zu sterben“

Gesundheitspolitik Autor: Isabel Aulehla

Für wohnungslose Menschen existieren nur wenige Versorgungsangebote. Liegt dann noch Drogenkonsum vor, ist die Situation besonders schwierig. (Agenturfoto) Für wohnungslose Menschen existieren nur wenige Versorgungsangebote. Liegt dann noch Drogenkonsum vor, ist die Situation besonders schwierig. (Agenturfoto) © Srdjan – stock.adobe.com

Opioidabhängige Personen werden immer älter. Doch in ihrer medizinischen und pflegerischen Versorgung klafft eine massive Lücke. Die Politik müsste völlig neue Strukturen schaffen, meint das Team einer Frankfurter Notschlafstelle.

Hat ein Patient so schwere chronische Wunden, dass die Amputation beider Beine ratsam wäre, gewährt ihm die Klinik meist Bedenkzeit. Nicht so einem Menschen, der im Frankfurter Eastside nächtigt, einer Notschlafstelle für drogenkonsumierende Personen. „Unser Klient sollte zügig zustimmen oder das Krankenhaus bis zum nächsten Morgen verlassen“, berichtet Dr. Marion Friers, stellvertretende Geschäftsführerin des Vereins „Integrative Drogenhilfe“. Der Betroffene lehnte die Amputation ab und schleppte sich weiter mit offenen Beinen durch das Eastside – einen alten Industriebau mit einer Höhe von 18 Metern je Stockwerk. Weil das Team ihn nicht tragen darf, rutscht er unter Schmerzen auf dem Hosenboden die Treppen rauf und runter.

Er ist bei weitem nicht der einzige Klient mit dringenden medizinischen und pflegerischen Bedürfnissen. Drogenkonsumierende Menschen erreichen dank Substitution, sozialer Betreuung und medizinischer Schadensbegrenzung ein immer höheres Alter – die Besucher des Eastside sind durchschnittlich 47 Jahre alt. Doch die Drogen hinterlassen ihre Spuren und so sind sie in der Regel bereits multimorbide und deutlich vorgealtert. Drogenkonsumierende leiden etwa 20 Jahre früher an chronischen Erkankungen und Invalidität.

Dunkelziffer der Betroffenen unbekannt 

In Deutschland sind mehr als 166.000 Menschen opioidabhängig – das schätzen jedenfalls die Autoren einer Studie von 2018. Es existieren keine Daten dazu, wie viele dieser Personen bereits pflegebedürftig sind. Etwa 62 % der Mitarbeiter der Suchthilfe geben jedoch an, dass sie Drogenkonsumenten betreuen, die einen alters- oder pflegebezogenen Hilfebedarf haben. Und jeder fünfte Klient (17 %) benötigt eine fachliche Begleitung, die Alter und Sucht verbindet. 

Ältere drogenabhängige in Versorgungssytemen. Ein Leitfaden. Modellprojekt 40+. München 2017

Betroffene brauchen interdisziplinäre Behandlung

„Im Grunde führen wir momentan ein kleines Altenheim“, beschreibt Dr. Friers die Situation. Die Liste der Komorbiditäten, die vorliegen, ist lang: kardiovaskuläre Erkrankungen,  Infektionen, Malignome, COPD, Asthma, Leberzirrhosen, Nierenversagen, Endokarditis, Thrombosen, schlecht heilende Wunden, Spritzenabzesse, Epilepsien, Demenz, Karies und Zahnverlust. Hinzu kommen psychische Krankheiten wie Depressionen und Psychosen.

Da oft mehrere Krankheiten nebeneinander bestehen, müsste die Therapie eigentlich interdisziplinär gestaltet sein. Stattdessen bleibt sie meist aus. Obwohl viele der Klienten krankenversichert sind, werden sie in den Einrichtungen der Regelversorgung nicht gerne gesehen. Eine ihrer wenigen Anlaufstellen sind Straßenambulanzen, doch dort steht die Notversorgung im Vordergrund. In der Nachbarschaft des Eastside betreiben die Malteser eine Suchtambulanz, zudem führt ein ambulanter Pflegedienst zweimal die Woche ein Wundmanagement im Eastside durch. Ansonsten kümmern sich die Mitarbeitenden so gut es geht um die Betroffenen. Aber als Sozialarbeiter haben sie keine medizinischen oder pflegerischen Fachkenntnisse. Und auf eine dauerhafte Betreuung ist das Konzept der Notschlafstelle auch nicht ausgelegt.

„Versorgung scheitert am Abstinenzgebot der Gesellschaft“

Um den Schlafgästen ein würdiges Altern zu ermöglichen, würde Dr. Friers sie gerne in Pflegeheime vermitteln. Doch das ist schon rein formell häufig unmöglich. So müssten die Klienten, um trotz des vergleichsweise niedrigen Alters aufgenommen zu werden, mindestens Pflegegrad 3 haben. Meist besteht jedoch nur Pflegegrad 2. Vor allem aber dürfte kein Beigebrauch mehr stattfinden. „Das ist einfach nicht realistisch“, kritisiert Dr. Friers. Praktisch alle Klienten konsumieren – mit oder ohne Substitution – weiter illegale Drogen, in erster Linie Crack. „Die Versorgung scheitert am Abstinenzgebot der Gesellschaft.“ Erschwerend komme hinzu, dass das Pflegepersonal den Umgang mit drogenabhängigen Personen nicht erlerne. Bei Menschen mit Demenz, die in der Betreuung ebenfalls schwierig sein können, sei dies anders.

Trotzdem macht Dr. Friers den Pflegeheimen keinen Vorwurf. Aus deren Perspektive sei es naheliegend, gewöhnliche Senioren aufzunehmen, zumal der Andrang groß genug sei. Das Drogen-Klientel gelte zu Recht als kompliziert. Beispielsweise komme es vor, dass Klienten bestimmte Hilfsmaßnahmen schlicht verweigern.  „Die Heime haben natürlich ein Problem, wenn der Medizinische Dienst zwecks Bewertung der Einrichtung zu Besuch ist, und da sitzen Bewohner, die sich drei Wochen lang nicht haben waschen lassen.“ 

Das Eastside

Die meisten Nutzer der Notschlaf­stelle „Eastside“ sind wohnungslos und drogenabhängig. Sie sollen dort Ruhe und Abstand zur Drogenszene finden. Von 9 bis 18 Uhr müssen sie den Wohnbereich verlassen. Sie können sich etwa in einem angeschlossenen Café aufhalten, in dem sie z.B. einen Billardtisch oder Gesellschaftsspiele vorfinden. Auch Aufklärungsangebote werden durchgeführt. Darüber hinaus wird  eine Sozial­beratung geboten und es finden Beschäftigungsmaßnahmen statt.

Das Eastside wird vom Verein „Integrative Drogenhilfe“ (idh) betrieben. Er gilt als Vorreiter in der Entwicklung niedrigschwelliger Hilfsangebote für drogenabhängige Menschen und  richtete beispielsweise 1994 den bundesweit ersten Konsumraum ein. 

Auch die rechtliche Frage, wie Heimbewohner – wenn sie denn konsumieren dürften – an ihren Stoff gelangen und wie sie diesen kosumieren, wäre für die Einrichtungen schwierig. Sie bräuchten Konsumräume. Hinzu kommt: Wo Drogenkonsumenten sind, sind auch Dealer – das ist auch im Eastside so.  Es gehört zu den Aufgaben der Mitarbeitenden, regulierend einzugreifen, notfalls rufen sie auch die Polizei. 

Spezialisierte Pflegeheime oder Wohngruppen gefordert

„Wir haben es mit einem system­immanenten Problem zu tun“, resümiert Dr. Friers. Da die existierenden Heime, Praxen und Kliniken die Betreuung der Klienten aufgrund interner Zwänge nicht leisten können, brauche es ein völlig neues Setting. Entweder müssten spezialisierte Pflegeheime aufgebaut werden, für die gesonderte gesetzliche Regelungen gelten. Oder es müssten Wohngruppen geschaffen werden, in denen die Betroffenen konsumieren dürfen und dabei pflegerisch und medizinisch betreut werden – von Niedergelassenen und Pflegediensten. In diesen Einrichtungen müsste eine enge Vernetzung zwischen sozialpädagogischer Begleitung und medizinischer und pflegerischer Betreuung gewährleistet sein. „Dafür müsste aber das Finanzierungssystem angepasst werden“, gibt Dr. Friers zu bedenken. 

In den kommenden Jahren wird der Bedarf an spezialisierter Betreuung stark steigen: 2017 wurde für Deutschland geschätzt, dass etwa 40.000 Personen mit problematischem Drogenkonsum 40 Jahre und älter sind. Für die nächsten Jahre wird eine Verdopplung prog­nostiziert.

Thema soll auf die suchtpolitische Agenda

Die integrative Drogenhilfe hat sich daher bereits an die städtische Politik, das Land Hessen und den Drogenbeauftragten der Bundesregierung gewandt. Zwar äußern die meisten dieser Stellen ihr Verständnis und erkennen das Problem an. Aber passiert ist bisher nichts. Die Stabsstelle des Drogenbeauftragten bat lediglich darum, ein entsprechendes Positionspapier einzureichen, um das Thema auf die suchtpolitische Agenda zu setzen. Dieses  Papier verfasst die „Integrative Drogenhilfe“ nun.

Das Team des Eastside hofft, dass schnelle politische Entschlüsse folgen. Denn den Besuchern laufe die Zeit davon, gibt Dr. Friers zu bedenken. Erst kürzlich sei einer der Pflegebedürftigen gestorben – in einem Vierbettzimmer und ohne palliative Begleitung. „Das ist kein Ort, um würdig zu sterben.“

Medical-Tribune-Bericht