Gewalt im Internet Virtuelle Jagd anonymer „Hater“ trifft auch Ärzte
Dr. Lisa-Maria Kellermayr wurde nur 36 Jahre alt. Die praktizierende Impfärztin war monatelangen Morddrohungen, Verleumdungen und der Hetze sog. „Hater“ im Online-Netzwerk Twitter ausgesetzt. Sie hatte sich stark für die Corona-Schutzimpfung ausgesprochen, wurde dafür massiv angefeindet.
„Ich werde als Patient kommen und wenn wir allein im Besprechungszimmer sind, werde ich dich niederschlagen und an deinen Arztstuhl fesseln“, droht ihr eine Person online, die ihre „Schrotflinte“ gleich mitbrächte. In einem anderen Hasskommentar wird nicht nur der Ärztin unmissverständlich Angst gemacht, sondern auch ihren Mitarbeitern nach dem Leben getrachtet. Man könne ihnen „ja dann einiges an dem Impfstoff, den du da hast, direkt in die Adern spritzen“, so die skrupellose Botschaft.
Diese und andere Hassposts sind weiterhin auf dem Twitter-Account der jungen Ärztin zu lesen. Wenige Tage vor ihrem Suizid wurden sie ins Netz gestellt. Über 100.000 Euro hatte Lisa-Maria Kellermayr zuvor noch vergeblich an Sicherheitsvorkehrungen in ihre Praxis gesteckt, neue Sicherheitstüren einbauen lassen, einen Security-Mann beauftragt. Doch die bedrohlichen Übergriffe setzen sich fort, statt ein für allemal aufzuhören. Hasserfüllte Impfgegner lauern ihr sogar immer wieder im Wartezimmer auf. Die Behörden schreiten nicht ein. Die Drohungen, die Schuldenspirale, die sich durch die hohe Investition der neu installierten Schutzmaßnahmen auftut: Irgendwann wird ihr alles zu viel. Die „leidenschaftliche Landärztin“, wie sie sich selbst in guten Zeiten beschreibt, gibt auf. Erst ihre eigene Praxis für Allgemeinmedizin in Seewalchen am Attersee, Oberösterreich, dann sich selbst. Am 29. Juli wird sie in ihren Praxisräumen tot aufgefunden.
Dieser Suizid führe „drastisch vor Augen, wohin die Verrohung des gesellschaftlichen Klimas führen kann“, erklärt Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK). Auch in Deutschland sinke die Hemmschwelle weiter. Ärzte erhielten Drohbriefe, würden verbal und körperlich angegriffen, so die BÄK. Bedrohungen durch Gegner der Corona-Maßnahmen, etwa bei einem ärztlichen Hinweis auf die Coronaregeln oder der Frage nach dem Impfstatus, gehörten mittlerweile zum Berufsalltag im Gesundheitssystem, würden sich sogar weiter verstärken, so Reinhardt. „Solche Übergriffe“ führten nicht nur „zu Verunsicherung und Angst. Sie gefährden nachhaltig die vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung“, betont er.
Schärferes Vorgehen gegen Hasskriminalität
Hierzulande hat der Gesetzgeber inzwischen reagiert und das Strafrecht verschärft: Gewalt gegen Ärzte sowie Angehörige anderer Gesundheitsberufe lassen sich seither wirkungsvoller sanktionieren – mit dem Gesetzespaket gegen Hasskriminalität (Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität), das im April 2021 in Kraft trat: Bei Morddrohungen in sozialen Medien, Gewalt gegen Beschäftigte in Rettungsstellen oder auch antisemitisch motivierten Straftaten sieht das Gesetz strengere Regeln und Strafverschärfungen vor. Die steigende Zahl von Gewalttaten gegen medizinisches Personal sollen durch dieses Gesetz gestoppt werden und Ärzte, Pfleger sowie Helfer in der Notfallversorgung besser gegen Übergriffe geschützt sein.
Die Anbieter großer Netzwerke werden darin zudem verpflichtet, ihnen bekannte Morddrohungen, volksverhetzende Äußerungen und andere strafbare Inhalte zu melden. Zuständig dafür ist eine neue Zentralstelle beim Bundeskriminalamt (BKA). Bislang waren die Online-Anbieter lediglich dazu verpflichtet, solche Inhalte zu löschen oder zu sperren. Strengere Vorgaben für Internetriesen wie Google, Amazon oder Facebook hat Anfang Juli auch das EU-Parlament beschlossen. Experten fordern hier allerdings dringend eine juristische Klärung hinsichtlich der konkreten Umsetzung der neuen Gesetzesvorgaben.
Die Selbsttötung der österreichischen Hausärztin zieht unterdessen weite Kreise, auch hin zu deutschen Kollegen, die als Impfbefürworter im Netz aktiv sind. Als Konsequenz aus diesem Fall hat etwa die Ärztin Natalie Grams ihren Twitter-Account gelöscht, auf der Online-Plattform war sie sieben Jahre lang mit ihrer medizinischen Wissenschaftskommunikation aktiv. Grams bedauert diesen Schritt, begründet ihn aber u.a. damit, dass sie von Twitter keinerlei Unterstützung erhielt, wenn sie Hass-Tweets meldete. Hass und Hetze seien durch die Coronapandemie noch aggressiver und politischer geworden, weiß die Ärztin, was sie letztlich dazu bewog, sich online aus dem öffentlichen politischen Diskurs zurückzuziehen.
Drohungen aus dem Darknet: „Ihr werdet mich niemals finden“
„Claas, der Killer“ nannte sich ein Impfgegner, der Lisa-Maria Kellermayr in einem Drohbrief perfide einschüchterte: „Es ist sehr interessant, wie viele Sorgen du dir um dein minderwertiges Leben machst, wie sehr du versuchst, es zu schützen, das Unvermeidliche hinauszuzögern.“ Er fühlt sich sicher in dem, was er tut, schreibt seine Mail anonym aus dem virtuellen Hinterhalt, dem Darknet: „Ihr werdet mich niemals finden.“ Im Fall Kellermayr ermittelt inzwischen auch die deutsche Staatsanwaltschaft, erste Spuren führen u.a. in die rechtsextreme Szene in Deutschland.
Der Suizid der jungen Frau, ihr eigener Tod, konnte die Hetzjagd, gegen die sie so lange ankämpfte, nicht so ohne Weiteres beenden. Vor wenigen Tagen wurde die Gedenkstätte von Lisa-Maria Kellermayr in Wien zerstört. In einem Kurzvideo ist zu sehen, wie eine Frau auf die niedergelegten Kerzen und Blumen vor dem Stephansdom mehrfach eintritt und dann einfach weitergeht.
„Gerade in Zeiten wie diesen sind der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Solidarität mit den Beschäftigten im Gesundheitswesen wichtiger denn je“, mahnt BÄK-Präsident Reinhardt an. Er fordert breit angelegte Aufklärungskampagnen, die zeigten, „dass Ärzte allen kranken Menschen helfen wollen“. Kein leichter Weg.
Haben Sie selbst Gedanken an Suizid?
Falls Sie unter einer seelischen Belastung leiden oder suizidgefährdet sind, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Beratung und Hilfe erhalten Sie unter der kostenlosen Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222. Hier finden Sie weitere Anlaufstellen und Ansprechpartner »
Medical-Tribune-Bericht