Wenn Ärzte von der Coronakrise als einer „kriminellen Inszenierung“ sprechen

Gesundheitspolitik Autor: Anouschka Wasner

Verschwörungsverbreiter instrumentalisieren die ärztliche Profession. Verschwörungsverbreiter instrumentalisieren die ärztliche Profession. © iStock/sigoisette

Ärztinnen und Ärzte, die mit Attesten die Maskenpflicht unterlaufen, auf der Praxishomepage von Verschwörungen reden und auf Hygiene-Demos ihren Berufsstand in die Waagschale werfen – darf man das so stehen lassen?

Der Internist Dr. Claus Köhnlein aus Schleswig-Holstein nennt die Aufnahmen der Militärlastwagen, die in Bergamo Leichen abtransportieren, „Fake-Aufnahmen“ und „miese Propaganda“. Von einer Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht, spricht der Arzt Heiko Schöning Mitte Mai vor den Demonstrierenden einer sogenannten Hygiene-Demo in Hamburg. Auch sein Kollege Dr. Marc Fiddike wendet sich wenige Tage später an die „Aufgewachten und Aufwachenden“, wie er die Demonstrierenden in Hamburg nennt. Ihre Rechte seien akut bedroht. Dahinter stünde eine Agenda, „die über Jahre gestrickt wurde.“ Impfungen könnten für jene Krankheiten empfänglich machen, gegen die geimpft würde. „Das weiß man, das wird natürlich totgeschwiegen!“, klagt er an. „Es geht um die Planung ID 2020, es sollen Farbmarkierungen eingebaut werden, Chips, Nanopartikel. Wollt ihr das?“, ruft er in die Menge.

Eine Gruppe nennt sich „Ärzte für Aufklärung“

Und das sind nicht die einzigen Ärzte, die auf Hygienedemos in den letzten Monaten zum Mikro gegriffen haben. Dabei werden Zweifel bezüglich der „wahren Motive“ der Regierenden gestreut und an der Pandemie überhaupt. Informationen würden gezielt abgesetzt, Medien seien gleichgeschaltet, alles ein abgekartetes Spiel.

Begründet wird aus dem Expertenstatus des Mediziners heraus. So vertritt etwa Schöning Mitte Juni u.a. selbstbewusst in einem Video, es gebe wissenschaftlich gesehen gar keine Rechtfertigung mehr für die Masken. Schöning und Fiddike, beide aus Hamburg, sind Mitgründer einer Initiative, die sich Ärzte für Aufklärung nennt. Unter diesem Namen ruft sie u.a. andere Mediziner dazu auf, ihren Patienten Atteste gegen die Maskenpflicht zu schreiben. Unterschrieben ist das entsprechende Pamphlet mit: „Ihre ärztlichen Kollegen vom MWGFD e.V. (Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie) Prof. Dr. Sucharit Bhakdi, (...), Dr. Bodo Schiffmann und Dr. Wolfgang Wodarg in solidarischer Zusammenarbeit mit den Ärzten für Aufklärung.“

All diese Namen konnte man in den letzten Wochen häufiger im Zusammenhang mit der Pandemie hören. Die Thesen von Prof. Bhakdi, emeritierter Professor für Mikrobiologie der Uni Mainz, werden von der übergroßen Mehrheit der Experten unwissenschaftlich genannt, denen des ehemaligen Lungenfacharztes Dr. Wodarg wird gleichermaßen widersprochen.

Dr. Schiffmann, HNO-Arzt aus Sinsheim, ist Mitbegründer der Vereinigung „Widerstand 2020“, deren Satzung von Beobachtern der Szene als rechtsoffen bezeichnet wird, und vergleicht die Coronamaßnahmen mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933. „Wo sind denn die Toten hier in ­Stuttgart?“, ruft er im Juli den Demonstrationsteilnehmern zu, nachdem er die Menge zuvor mit Sprechchören agitiert hat. „Lassen wir uns das gefallen?“ „Nein!“, ruft die Menge zurück. Anspielungen auf den Widerstand in der DDR und in Nazi-Deutschland fallen.

Auf der Homepage der sog. Ärzte für Aufklärung findet sich eine Unterstützerliste mit den Namen von Hunderten von Ärztinnen und Ärzten – von denen vermutlich einer nennenswerten Zahl nicht bewusst ist, wie weit der Protest der Gruppe, für die sie unterschrieben haben, reicht. Aber wie kommt es, dass Ärzte öffentlich vertreten, das Coronavirus sei reine Panikmache und die Maßnahmen dagegen dienten der gezielten Irreführung der Bevölkerung?

Pia Lamberty ist Sozialpsychologin, Johannes Gutenberg Universität Mainz, und arbeitet zum Thema Verschwörungsmythen. Sie sagt, angesichts eines gefühlten Kontrollverlustes neigten Menschen eher dazu, eine Verschwörung zu wittern. Mitglieder aus dem rechtsextremen Reichsbürgertum hätten berichtet, dass einschneidende Lebensereignisse Auslöser für sie gewesen seien, sich mit Verschwörungsgerüchten zu befassen.

Das würde nicht heißen, dass sich jeder, der für solche Mythen offen ist, radikalisiert, so Lamberty. Doch es gebe so etwas wie eine Verschwörungsmentalität: Wer an eine Erzählung glaubt, stimmt meistens weiteren Erklärungen dieser Art zu, wisse man aus Studien.

Was diese Mythen können: Sie bringen eine wahrgenommene Ordnung in eine vermeintlich chaotische Welt. Eine Ordnung, die meist polarisiert und in Gut und Böse aufteilt. Aber vor allen Dingen: Anhänger von Verschwörungsmythen wähnen sich bei den Aufgewachten, sie gehören zu den wenigen, die die Wahrheit verstanden haben. Ein solcher Glaube könne zu einem wichtigen Teil der Identität werden – was die für Außenstehende zuweilen unglaubliche Unbeirrbarkeit auch angesichts härtester Widersprüche erklären kann, erklärt Lamberty.

Systemkritik bei Corona-Protesten darf nicht ärztlich bemäntelt werden

Die Ärztekammern sollten auf die Instrumentalisierung des Berufsstandes im Rahmen der Coronaproteste reagieren. Denn die Rolle der Ärzte, die eine Ablehnung der Coronamaßnahmen politisieren, ist kritisch zu sehen.

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Der ärztliche Berufsstand läuft dabei das Risiko einer Instrumentalisierung. Verbreiten Ärzte Verschwörungserzählungen oder Falschinformationen, werden sie als nützliche Unterstützer der Szene gerne aufgenommen. Immer wieder wird dann explizit auf die medizinische Ausbildung verwiesen – natürlich nur bei jenen Ärzten, die die jeweils eigene Meinung vertreten. Der Arzt wird so eine maßgebliche Autorität, während Experten, die sich seit Jahren intensiv mit der Materie beschäftigen und eine gegenteilige Meinung vertreten, zum Feindbild werden, so Lamberty. Vor dem Hintergrund einer Feminisierung des Arztberufes und wachsender Gleichstellungsbestrebungen in der Gesellschaft könne man auch die Frage stellen, welche Rolle Kränkungen etwa durch Bedeutungsverlust oder durch das Gefühl, nicht mehr gehört zu werden, spielen. Ein Beweggrund, Verschwörungserzählungen zu verbreiten, sei ein gesteigertes Bedürfnis nach Einzigartigkeit. Man verfügt scheinbar über eine Art Geheimwissen – während andere als „Schlafschaf“, „Systemling“ oder gleich als Teil der Verschwörung herabgesetzt werden. Verschwörungsglaube finde sich erfahrungsgemäß stärker bei Männern, so Lamberty, was eventuell darauf zurückzuführen ist, dass bei ihnen das Bedürfnis nach Einzigartigkeit in der Regel stärker ausgeprägt ist. Um diesen Aspekt zu verstehen, brauche es aber mehr Forschung.

Verschwörungsgerüchte sind leider nicht nur komisch

Eine Win-win-Situation also, bei der auf der einen Seite das ärztliche Ego profitiert und auf der anderen politische Interessen verfolgt werden? Sicher ist: Verschwörungsmythen haben fast immer einen politischen Aspekt. Sie verunsichern und destabilisieren das Vertrauen in die Verantwortlichen. Die Sozialwissenschaftlerin Nora Pösl, Ruhr-Universität Bochum, stellt einen Zusammenhang her zwischen dem Glauben an sogenannte alternative Heilmethoden und dem Einstieg in unwissenschaftliche, simplifizierende Weltanschauungen. Nebenwirkungen von Behandlungen würden als absichtsvolles Handeln der Pharmaindustrie konstruiert. Eine prinzipielle Wissenschaftsfeindlichkeit könne den Glauben an Fake-News und populistische Welterklärungsmodelle befördern, was wiederum anknüpfungsfähig an rechte Ideologien sei. Die Gemeinsamkeiten: einfache Erklärungen für komplexe Probleme, die auf einem Gut-Böse-Dualismus, einem Sündenbock und der Abgrenzung von wissenschaftlichen Methoden beruhen. Spätestens an dieser Stelle muss sich eine Ärzteschaft fragen, inwieweit sie dem Treiben, das ihren Berufsstand belastet, zuschauen möchte. Die Bundesärztekammer bleibt auf Anfrage eher allgemein: Die private Meinung entbinde einen Arzt nicht davon, sich bei der Ausübung seines Berufes an gesetzliche und berufsrechtliche Regelungen zu halten. Sofern Ärztinnen und Ärzte bei der Ausstellung von Attesten nicht sorgfältig verfahren, kann dies Gegenstand berufsrechtlicher Maßnahmen sein. Stellt der Arzt das Attest wider besseren Wissens unrichtig aus, komme auch eine Strafbarkeit nach § 278 StGB in Betracht.

Die Kammern haben bislang noch nicht erkennbar reagiert

Die Ärztekammer Hamburg sagt auf Anfrage, vor dem Hintergrund der Presse- und Meinungsfreiheit müsse die Kammer auch abwegige Ansichten respektieren. Man finde es allerdings wenig hilfreich, wenn sich einzelne Ärztinnen oder Ärzte mit persönlichen Meinungsäußerungen hervortun, denen jegliche Evidenz fehlt. Ein Ermittlungsverfahren leite man aber erst bei konkreten Anhaltspunkten für ein berufsrechtlich vorwerfbares Fehlverhalten ein. Für etwaige Hinweise sei man dankbar. Die Ärztekammer Schleswig-Holstein wird deutlicher: Selbstverständlich bestünde in Deutschland Meinungsfreiheit, auch für Ärztinnen und Ärzte. Da ihren Worten jedoch besonders viel Vertrauen entgegengebracht wird, müsse die persönliche Meinung erkennbar von der Ausübung der ärztlichen Tätigkeit abgegrenzt sein. Der Patient dürfe durch das Ausleben persönlicher Weltanschauungen des Arztes keinesfalls Schaden erleiden, sei es durch Ablehnung anerkannter Hygiene- und Schutzmaßnahmen seitens des Arztes oder Attestausstellungen ohne vorherige Untersuchung. Das wäre nicht hinnehmbar und verstoße gegen ärztliche Kodizes. Die Kammern stünden bundesweit dazu im diskursiven Austausch.

Medical-Tribune-Recherche