Systemkritik bei Corona-Protesten darf nicht ärztlich bemäntelt werden
Gefühlt haben sich in den letzten Monaten immer mehr Ärzte im Umfeld von Verschwörungsanhängern aktiv zu Wort gemeldet. Sind es tatsächlich mehr geworden oder haben sie in Zeiten von Corona einfach nur mehr Stimme bekommen?
Professor Dr. med. Drs. Eckhard Nagel: Das Thema Corona verängstigt und sorgt die Menschen. Das fordert die Profession und die Professionalität von Ärzten heraus. Es ist also absolut nachvollziehbar, dass sich gerade jetzt Ärzte und Wissenschaftler zu Wort melden und auch gehört werden.
Dabei finden dann aber auch jene Ärzte Gehör, die Verschwörungsgerüchte verbreiten wie z.B. Corona sei nur eine große Inszenierung?
Professor Dr. med. Drs. Eckhard Nagel: Die Bevölkerung erwartet in der Corona-Pandemie, dass Ärzte umfassend Hilfe bieten und hört entsprechend genau hin. Wer also mit seiner persönlichen Meinung - die möglicherweise neben der allgemeinen Wahrnehmung liegt – gehört werden will, hat gute Chancen, wenn er sich als Arzt ins Gespräch bringt. Wir kennen dieses Problem der Instrumentalisierung schon aus der Diskussion um den Feinstaub. Die größte Aufmerksamkeit konnte eine Gruppe von Lungenärzten erzielen, die die irritierende Meinung vertrat, es sei nicht nachgewiesen, dass Feinstaub gesundheitlich beeinträchtigend ist. Man bewertete diese Ausführungen als Expertise, auf deren Grundlage man weiterführende Entscheidungen treffen kann.
Die Verantwortung, die den Ärztinnen und Ärzten in solchen Situationen zuwächst, ist eine, die wir aus dem ärztlichen Beruf sehr gut kennen: Es geht darum, im Arzt-Patienten-Verhältnis in Entscheidungssituationen für den Patienten Mitverantwortung zu übernehmen. Dementsprechend ist der Arzt auch für die Folgen dessen, was er rät, mitverantwortlich. Das sollte auch dann die Richtschnur sein, wenn man sich in einer solchen übergeordneten öffentlichen Debatte äußert.
Wenn Ärzte von der Coronakrise als einer „kriminellen Inszenierung“ sprechen
Gegen welche Regeln verstoßen Ärztinnen und Ärzte, die öffentlich auf Hygiene-Demos Verschwörungsgerüchte verbreiten oder auf ihrer Homepage schreiben, dass sie „die weltweite sog. Krise für eine internationale kriminelle INSZENIERUNG und einen TRICK, hintergründige Dinge durchzusetzen!“ halten.
Professor Dr. med. Drs. Eckhard Nagel: Es ist ganz wesentlich, die persönliche Verantwortung im Arzt-Patienten-Verhältnis als ein Grundmomentum zu nehmen. Das gilt hier genauso wie bei Ärztinnen und Ärzten, die sich auf institutioneller Ebene äußern oder in der Politik aktiv sind. Sie müssen diese Verantwortung als Teil des ethischen Rahmens, in dem sie handeln dürfen, immer im Blick haben. Ärzte haben primär eine individuelle und erst sekundär eine übergeordnete Verantwortung. Insofern ist es sehr problematisch, wenn gesellschaftspolitische Äußerungen als diagnostische oder therapeutische Äußerungen bemäntelt werden. Wenn ein Arzt gefragt wird, welche Organe das Corona-Virus befällt und wie man sich am besten davor schützen kann, dann sind das konkrete Fragen, die ein individueller Patient oder eine Gesellschaft als Kollektiv an einen Arzt richtet. Darauf kann man detailliert antworten. Wenn ich aber politische Äußerungen tätige, z.B. wie ich glaube, dass die Welt systematisch korrumpiert ist oder wie gesellschaftspolitische Systeme funktionieren, dann verlasse ich die ärztliche Handlungsebene. Dann muss ich als individuelle Person auftreten, nicht als jemand, der eine Profession vertritt. Ich bin unbedingt dafür, dass jeder seine Meinung und seine Befürchtungen verlautbaren lässt, auch auf Demonstrationen. Aber ich kann es nicht im weißen Kittel tun, mit der Professionalisierung meiner persönlichen Aussage. Eine Vermengung von ärztlichem und persönlichem Auftritt muss zu Konflikten führen. Wenn ich also an dunkle Mächte glaube, die die Gesellschaft torpedieren, dann kann ich davon zutiefst überzeugt sein – aber die Worte „Ich als Arzt“ haben da nichts zu suchen. Positioniere ich mich dabei als Facharzt, kann das zu Irritationen und Gefährdungssituationen führen, weil Menschen diese Aussagen als medizinischen Ratschlag interpretieren und nicht als politische Äußerung. Genau das erleben wir aber gerade.Um noch mal konkret zu werden: Es gibt Ärzte, die Corona-Abwehrmaßnahmen und Impfungen öffentlich ablehnen. Würde man dem folgen, wären Risikogruppen, deren Abwehr geschwächt ist, auf sich selbst zurückgeworfen. Ist das mit dem ärztlichen Berufsethos zu vereinbaren?
Professor Dr. med. Drs. Eckhard Nagel: Nein, gar nicht. Die hippokratische Tradition definiert bis heute wesentlich den ärztlichen Behandlungsauftrag. Dabei steht an erster Stelle das Nichtschadensprinzip: Alle meine Handlungen und Äußerungen müssen unter dem Aspekt reflektiert werden, dass ich niemandem schaden darf. Ein ganz wichtiger Grundsatz, der einer generellen Warnung vor Impfungen oder bestimmten ungesicherten Erkenntnissen zu Medikamentenwirkungen massiv widerspricht! Der zweite wesentliche Aspekt, der in der hippokratischen Tradition liegt, ist die Verantwortung, die ich als Arzt übernehme. In der christlichen Tradition richtet sich der Arztberuf sogar noch stärker auf die Begleitung und Fürsorge für den Leidenden, den besonders Gefährdeten. Ärztlich Handeln richtet sich nicht an der Masse aus, der es gut geht.Was heißt das also für die Ärztin, den Arzt konkret?
Professor Dr. med. Drs. Eckhard Nagel: Aus ärztlicher Perspektive kann ich mich auf keinen Fall gegen gesetzlich verbindliche Richtlinien stellen und Menschen davor warnen, ein Infektionsschutzgesetz zu befolgen, das in strukturierter Art und Weise versucht, den aktuellen Erkenntnistand zusammenzutragen. Als Person kann ich sagen, ich befolge keine Hygieneregeln, da bin ich frei – davon abgesehen, dass das dann vielleicht sanktioniert wird. Aber als Berufszugehöriger kann ich das sicherlich nicht tun.Nach dem, was Sie bisher gesagt haben, dürfte das Verhalten der Ärzte nicht unwidersprochen bleiben. Wie könnte eine entsprechende Intervention aussehen, welche Mittel stehen den Kammern zur Verfügung?
Professor Dr. med. Drs. Eckhard Nagel: Man kann die Ärztinnen und Ärzte ermahnen und um eine Stellungnahme bitten, wie sie diese Äußerungen in Einklang mit ihrer Verpflichtung sehen, sich im ärztlichen Kontext an Berufsausübungsregeln zu halten – wobei einige dieser Ärzte ihren Beruf ja gar nicht mehr ausüben. Versuchen wir zu differenzieren: Wenn ich meinem Patienten von einer Pneumokokken-Impfung abrate, dann kann ich Gründe dafür haben, die sich an der medizinischen Situation des Patienten orientieren. Andere Ärzte mögen das dann auch anders sehen. Solange sich meine Entscheidung aber an der Patientensituation orientiert, ist die Bandbreite der ärztlichen Entscheidung nur abhängig von Grundsätzen wie Good Clinical Practices und vom persönlichen Gewissen des einzelnen Arztes. Wer dagegen auf einer Demonstration an eine ihm nicht bekannte Öffentlichkeit ärztliche Ratschläge adressiert, die sich gegen die allgemeinen und von den meisten Ärztinnnen und Ärzte sowie den gesetzlichen Institutionen mitgetragen Richtlinien wenden, verstößt gegen berufliche Pflichten. Man muss erwarten dürfen, dass praktische tätige Ärzte sich an den Kontext halten, der dem wissenschaftlichen Stand entspricht. Man könnte mir gegenüber auch Sanktionen aussprechen, wenn ich etwa negieren würde, dass ein Antibiotikum in einer Infektionssituation sinnvoll ist, meine Patienten nicht damit behandle und es kommt jemand zu Schaden. Ich muss mir also bewusst sein, dass wenn ich in einer so großen Öffentlichkeit Äußerungen tätige, ich im Prinzip dafür zur Verantwortung gezogen werden kann, und zwar als Arzt. Man könnte vielleicht denken, wieso, ich war doch nur als Demonstrant dort. Das ist aber nur so, wenn ich meinen Beruf nicht mit in die Darstellung meiner Äußerung bringe.Die Kammern haben bisher noch nicht erkennbar reagiert und stellen bislang offenbar allein auf berufsrechtlich vorwerfbares Fehlverhalten ab. Kann eine öffentliche Äußerung auf einer Demonstration dazugehören?
Professor Dr. med. Drs. Eckhard Nagel: Selbstverständlich steht im Berufsrecht nicht, dass Ärzte sich nicht öffentlich äußern dürfen. Aber es geht hier um die Instrumentalisierung des Arztberufes. Und da hätten die Kammern sehr wohl Möglichkeiten, genauer hinzusehen. Wenn ich als Ärztin oder Arzt bezüglich des Werbeverbots bestimmte Grenzen überschreite, können mich die Kammern ja auch in die Schranken weisen. Und wenn sich die Situation wiederholt, dass ich als Ärztin oder Arzt öffentlich Äußerungen tätige, die eine Gefährdung von Menschen zur Folge hat, dann bin ich doch sehr der Meinung, dass Ärztekammern aufgefordert sind zu handeln.Es gibt einen Aufruf von Ärzten an ihre ärztlichen Kollegen, Atteste gegen die Maskenpflicht zu schreiben. Ist das nicht ein Verhalten, dass Patienten schädigen kann? Ist das ein konkreter Punkt, an dem die Kammern einschreiten sollten?
Professor Dr. med. Drs. Eckhard Nagel: Unbedingt. Hier wird eine ärztliche Indikation gegen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ausgespielt. Ich darf nicht eine Möglichkeit, die mir anvertraut ist, nutzen, um gesetzliche Vorgaben zu unterlaufen. Und ich darf nicht meine persönliche Meinung gegen eine Richtlinie dadurch zum Ausdruck bringen, dass ich Atteste manipuliere. Damit unterlaufe ich nicht nur eine Verordnung, sondern gefährde die Position, die die Ärzteschaft innerhalb der Gesellschaft einnimmt: die der unbestechlichen und sich an der Situation des Einzelnen orientierenden Berufsgruppe. Das können die Verantwortlichen der Berufsgruppe nicht durchgehen lassen. Man muss noch mal daran erinnern: Die Kammerverfasstheit der Ärzte ist eine gesellschaftspolitische Entscheidung. Damit wurde der Kammer übertragen, für die Ärzteschaft die Verantwortung übergeben, dass sich die Berufsgruppe insgesamt und im Speziellen an die Spielregeln des gemeinsamen Miteinanders hält. Wenn ich diese Grundstruktur unseres gesellschaftlichen Miteinanders infrage stelle, gefährde ich letztlich den Gesamtbestand unseres gesellschaftlichen Systems. Das kann nicht unsanktioniert bleiben.Warum haben die Kammern dann noch nicht reagiert, was glauben Sie?
Professor Dr. med. Drs. Eckhard Nagel: Vielleicht auch, um erst mal kein Öl ins Feuer zu gießen. Aber in erster Linie liegt es wahrscheinlich daran, dass sie gerade massiv damit beschäftigt sind, die medizinische Versorgung in unserem Land mitzuorganisieren.Wie kann es sein, dass gerade in einer medizinisch bestimmten Krise Ärzte, die doch über entsprechenden wissenschaftlichen Hintergrund verfügen, Verschwörungsgerüchte verbreiten und faktisch falsche Aussagen propagieren?
Professor Dr. med. Drs. Eckhard Nagel: Ja, das irritiert die Leute ja auch. Es gehört nicht zu unserer Kultur, dass ein offener Disput unter Fachleuten in die Öffentlichkeit getragen wird. Das lässt Ratlosigkeit entstehen. Man würde immer von einer Fachgruppe erwarten, dass sie Differenzen intern klärt.Ich kann mir das nur damit erklären, dass wir Menschen in Unsicherheiten zu Theoriebildungen neigen, die letztlich im Fiktiven liegen. Diese Neigung ist von alters her recht ausgeprägt. Die Vorstellung, dass es irgendwo im Hintergrund eine Person oder eine Gruppe gibt, die von Ängsten oder Sorgen profitiert und deshalb daran beteiligt ist, diese zu erhalten, ist schon jahrhundertealt. Diese Grundideologien hatte schon schreckliche Folgen.
Sie reden von antisemitischen Tendenzen, die in den meisten Verschwörungsgerüchten enthalten sind, mal mehr, mal weniger offen.
Professor Dr. med. Drs. Eckhard Nagel: Ja. Bemerkenswert ist ja auch der Name der Gruppe „Ärzte für Aufklärung“. Er unterstellt, dass jeder, der nicht in dieser Gruppe ist, nicht für Aufklärung ist. Dass also Äußerungen vom RKI oder der WHO keine Aufklärung beinhalten. Dabei ist doch der Kern von Aufklärung, rationales und vernunftbezogenes Denken einzusetzen. Wissenschaftliche Erkenntnisse infrage stellen und mit Vorurteilen statt wissenschaftlichen Erkenntnissen zu arbeiten hat jedenfalls mit Aufklärung so gar nichts zu tun.Vielen Dank für das Gespräch, Prof. Nagel!
Medical-Tribune-Interview
erschienen am 21.07.2020, aktualisiert am 22.07.2020 um 12:15 Uhr