Substitutionstherapie „Ich würde keine Praxis ohne meine Substituierten führen wollen“
Gerade mal 2.500 Ärzte bieten in Deutschland eine Substitution für opioidabhängige Patienten an – sie versorgen 80.000 Betroffene. In den letzten Jahren ging die Zahl der Mediziner zurück, während die der Patienten stieg. Viele Hausärzte fürchten, es könnte andere Patienten verschrecken, wenn Heroinabhängige in der Praxis ein- und ausgehen. Doch das ist ein Trugschluss, meint Dr. Jan Brackmann.
„Bei uns sitzen Privatpatienten neben Substituierten und keinem der Wartenden ist das bewusst“, berichtet der Hausarzt und Suchtmediziner. Pro Quartal behandelt seine Praxis in Bottrop ca. 2.500 Patienten, davon 180 in Substitution. Weder äußerlich noch sozial entsprechen die Betroffenen zumeist einem „Junkie-Klischee“, betont er. Einige würden mit Aktentasche und im Anzug kommen. Auch gewalttätig wurde noch nie jemand. Es passiere höchstens mal, dass jemand pöbele, erklärt der Arzt. „Aber das habe ich von Nichtsuchtpatienten während der Pandemie häufiger erlebt als von meinen Substituierten.“
Spezialisierte MFA können Großteil der Arbeit leisten
Die Praxis bietet die Ersatztherapie mit allen gängigen Mitteln an: D-L-Methadon, L-Polamidon, Buprenorphin und retardiertem Morphin. Personen, die noch instabil sind, erhalten ihr Präparat täglich. Bei stabilerer Lage ist ein wöchentlicher oder monatlicher Rhythmus möglich. Nur rund 30 % der Arbeit am Patienten liege wirklich beim Arzt, erklärt Dr. Brackmann. Er passt beispielsweise die Dosis an und führt Untersuchungen durch. Die übrigen 70 % leisten zwei spezialisierte MFA. Sie überwachen die Einnahme der Substitute und die Urinkontrollen, auch die Dokumentation gegenüber KV und Bundesopiumstelle erledigen sie routiniert. Wegen des regelmäßigen Kontakts kennen sie die Betroffenen gut. Stellt sich etwa heraus, dass Beikonsum vorliegt, verlässt Dr. Brackmann sich auf ihr Urteil. „Sie wissen, was bei den Patienten los ist und können einschätzen, ob der Konsum einer schwierigen Situation geschuldet ist.“
Neben den regelmäßigen Terminen können die Substituierten bei Bedarf immer ein Gespräch mit dem Arzt einfordern. Ihre Lebensgeschichte habe es meist in sich, erklärt er. 80 % bis 90 % von ihnen hätten schwere Traumatisierungen erlebt. Eine 22-Jährige gehe auf den Straßenstrich, ein anderer Patient sei kürzlich aus 15-jähriger Haft entlassen worden.
Leistungen werden extrabudgetär bezahlt
Man müsse vom Typ her geeignet sein, das auszuhalten. „Man darf nicht immer Mitleid mit ihnen haben, sondern muss hart bleiben. Aber bezugnehmend auf die Geschichte der Patienten muss man auch kleine Fortschritte positiv sehen und auch Substituierte brauchen therapeutische Partner.“ Finde Beikonsum statt, müsse man manche von ihnen regelrecht in die Entgiftung zwingen – aber das Gros kenne seine eigene Grenze und hole sich zur rechten Zeit Hilfe.
Aus finanzieller Sicht lohne sich die Drogenersatztherapie, meint Dr. Brackmann. Die Leistungen werden extrabudgetär vergütet. Die Abgabe der Präparate sei allerdings besser bezahlt als die Gespräche mit den Suchtkranken. Da er rund 180 opioidabhängige Patienten versorgt und zudem auch Palliativ- und Schmerzmediziner ist, habe die Praxis gegenüber der KV bei der Abrechnung einen Sonderstatus.
Substitutionstherapie im EBM | |||
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GOP | Inhalt | Euro | Menge bzw. Dauer |
01949 | Take-Home-Vergabe | 9,46 | je Behandlungstag |
01950 | tägliche Vergabe | 5,18 | je Behandlungstag |
01953 | Verabreichung Depotpräparat | 14,65 | je Behandlungswoche |
01951 | Zuschlag zu 01949 oder 01950 für Behandlung an | 11,38 | - |
01952 | Zuschlag zu 01949, 01950 oder 01953 für das | 17,35 | je vollendete 10 Min., max. 4 bzw. 8 Mal |
01960 | konsiliarische Untersuchung und Beratung | 12,39 | einmal im Behandlungsfall |
Fehlanreize in der Vergütung? Neues Konzept zur Honorierung der Substitutionstherapie vorgelegt
Derzeit erhalten substituierende Ärzte am meisten Geld, wenn sie ihren Patienten das Ersatzmittel täglich verabreichen. Dies setze Fehlanreize in der Behandlung, kritisiert das Berliner IGES-Institut. Den Betroffenen sei eine selbstbestimmtere Lebensführung möglich, wenn sie ihr Substitut wöchentlich oder monatlich erhalten. Dies ist etwa per Depotpräparat oder Take-Home-Vergabe möglich. Eine Umstellung bedeute für Ärzte aber Erlöseinbußen.
Honorar soll sich nach Gesprächsaufwand richten
Das Institut fordert in einem Gutachten, die Honorierung müsse unabhängig von der Vergabeform sein und sich stärker an der Anzahl der Arzt-Patienten-Kontakte sowie am organisatorischen Aufwand orientieren. Es schlägt daher vor, die bisherigen EBM-Positionen durch drei neue GOP zu ersetzen. Dies sei bei gleichbleibendem Vergütungsvolumen umsetzbar.
Eine der Ziffern soll nach Länge des Arzt-Patienten-Kontaktes berechnungsfähig sein (10 Euro je 5 Minuten). Die zweite Ziffer könnte für die organisatorischen und administrativen Aufgaben angesetzt werden, zudem für die Vergabe des Ersatzmittels (150 Euro je Behandlungsfall). Die dritte GOP soll einen Anreiz schaffen, weitere Patienten aufzunehmen. Sie könnte vier Quartale nach der Neueinstellung eines Patienten je Behandlungswoche mit 60 Euro vergütet werden. Auch bei der konsiliarischen Behandlung Opioidabhängiger sieht das Institut Verbesserungsbedarf – 2020 seien nur 1,5 % der Patienten konsiliarisch versorgt worden.
Die Bundesärztekammer wünscht ebenfalls eine bessere Versorgung. In den Großstädten würden Schwerpunktpraxen zum Alltag gehören, die Versorgung in ländlichen Regionen sei dagegen schwach. Dies begünstige die Abwanderung Betroffener in die Großstädte. 14 % der rund 2.500 substituierenden Praxen versorge die Hälfte aller Patienten.
Um die Praxen zu entlasten, regt BÄK-Chef Dr. Klaus Reinhardt an, weitere Einrichtungen des Gesundheitswesens miteinzubeziehen, etwa Krankenhausambulanzen, Gesundheitsämter und Psychiater. Auch im Studium und in der Weiterbildungszeit sei die Behandlung des Themas ausbaufähig. Der Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Burkhard Blienert (SPD), sprach sich kürzlich gar für ein Ausbildungsmodul „Suchterkrankung“ im Medizinstudium aus.
KVen schaffen Anreize durch finanzielle Förderung
Die KVen versuchen, mehr Praxen durch eine finanzielle Förderung zum Anbieten entsprechender Leistungen zu bewegen. In Baden-Württemberg erhalten Ärzte, die Substitutionspatienten „in größerer Zahl übernehmen“ (etwa, weil eine Praxis in der Umgebung schließt), bis zu 20.000 Euro. Seit Oktober 2020 gingen jedoch erst sieben Anträge ein. Wer neu an der substitutionsgestützten Behandlung teilnehmen möchte, kann dort bis zu 2.500 Euro beantragen.
Die Urlaubsvertretung des Hausarztes muss von einem anderen Suchtmediziner geleistet werden, eine Vertretung durch einen Nichtsuchtmediziner wäre lediglich zeitlich befristet möglich. Er bittet dann seinen ehemaligen Chef, von dem er die Praxis übernommen hat, einzuspringen. Eigentlich wäre das nicht mal nötig, da auch die angestellte Ärztin, Julia Stefan, die Leistung erbringen könnte. „Aber sie muss eben noch 2.000 andere Patienten versorgen.“
Hausärzte, die in die Substitutionstherapie hineinschnuppern wollen, können zunächst die „konsiliarische Substitution“ erproben, erklärt Dr. Brackmann. Mit einer Genehmigung der KV dürfen sie bis zu zehn opioidabhängige Patienten betreuen und Substitute verabreichen. Die Dosiseinstellung liegt allerdings beim Konsiliarius. „Teilweise geht es um Dosen, die lebensgefährlich sein können. Normalen Hausärzten ist ohnehin oft unwohl dabei, so etwas zu rezeptieren.“
Die medizinische Versorgung der Patienten ist anspruchsvoll. Bei vielen liegen Infektionskrankheiten wie Hepatitis B oder C vor. HIV und Leberzirrhosen sind ebenfalls vertreten. Doch Dr. Brackmann stellt sich dieser Herausforderung gerne. „Ich würde keine Praxis ohne substituierte Patienten führen wollen. Das wäre mir viel zu langweilig.“ Auch der Umgang sei abwechslungsreich. „Manchmal ist es ein Katz-und-Maus-Spiel. Mal muss ich den guten Bullen spielen, mal den bösen. Aber zumeist gibt es ein vertrauensvolles Verhältnis, wie bei allen anderen Patienten auch.“ Die Patienten respektieren ihn als ihren „Doc“. Am Bahnhof wird er manchmal gegrüßt.
Medical-Tribune-Bericht