Praxiskolumne Erwartung unrealistisch, Enttäuschung groß

Kolumnen Autor: Dr. Cornelia Werner

Die Coronapandemie hat bei einigen Personen das Vertrauen in die Wissenschaft geschwächt. Die Coronapandemie hat bei einigen Personen das Vertrauen in die Wissenschaft geschwächt. © iStock/Inside Creative House

Egal, wie viel Positives Ärztinnen und Ärzte bewirken – die Enttäuschungen prägen die Menschen scheinbar stärker. Eine Kolumne über falsche Erwartungen und mangelnde Kommunikation.

Ich habe viel nachgedacht, welches Fazit ich aus dem letzten Jahr ziehe. Natürlich: Das beherrschende Thema ist die Coronapandemie mit ständig neuen Regelungen, Varianten, Coronaleugnern, Impfskeptikern etc. Doch letztlich ist mir eines aufgefallen: Das meiste, was für Unstimmigkeiten gesorgt hat, hat einen gemeinsamen Nenner: unerfüllbare, unrealistische Erwartungen.

Schon am Anfang der Pandemie habe ich mich gewundert, dass es Menschen gibt, die die Existenz des Virus und die wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu leugnen können. Recht bald hatte ich das Gefühl, dass dies aus einer Angst heraus geschieht. Denn die bisherige Lebensweise lässt sich nicht fortführen. Die Menschen müssen sich mit Krankheit und Tod auseinandersetzen.

Die wunderbare Selbstoptimierung, die man scheinbar mittels Vitaminpillen, Proteindrinks und Botox selbst in der Hand hat, ist im Eimer. Da kommt so ein Virus und macht alles zunichte. Daher gilt: Was nicht sein darf, kann einfach nicht sein. Die Erwartung des Menschen, sein Leben im Griff zu haben, wird maßlos enttäuscht. Mir sind diese unlogischen Reaktionen und Erwartungen 2021 einige Male begegnet.

Da war der junge Lagerist, dessen Vater aus heiterem Himmel die Diagnose eines Bronchialkarzinoms mit Hirnmetastasen hatte. Er war sehr besorgt um den Vater und begann sich durch Studien zu lesen. Er meinte, ein solches Wissen zu haben, dass er sich bei der Onkologin über die Auswahl des Chemotherapeutikums beschwerte. Dies tat er nicht besonders argumentativ, sondern latent aggressiv. Die Situation wäre fast entgleist, die Onkologen wollten die weitere Therapie ablehnen.

Seine Erwartungen, dass ein Ende 40-Jähriger nicht sterben könne, bzw. dass wir heutzutage jedes Stadium dieses Tumors heilen könnten, waren nicht erfüllbar. Sein Auftreten offenbarte nicht nur die fehlende Akzeptanz des Unvermeidlichen, sondern auch das Fehlen jeglichen Respekts vor der langjährigen Ausbildung und Erfahrung der behandelnden Ärzte.

Solche Fälle machen mich sprachlos. Denn der Vorwurf lässt nicht lange auf sich warten: „Es wird einem ja nicht geholfen!“ Für die Tatsachen, dass wir Mediziner nur mit dem arbeiten können, was wir in unserer pharmakologischen Trickkiste haben, dass es keine Wirkung ohne Nebenwirkung gibt und dass der Patient mitarbeiten muss, haben wir uns fast schon zu entschuldigen.

Und all diese geplatzten Hoffnungen sowie Erfahrungen, wenn „die ach so tolle Medizin“ nicht geholfen hat, bündeln sich zusammen mit einer großen Portion Angst vor dem allgemeinem Lebensrisiko und dem Fakt der Sterblichkeit bei „Corona“. Wenn ich an manche Gespräche mit Impf­skeptikern der letzten Monate denke, fallen mir die Enttäuschten auf: Die Mutter eines Kindes, das bei der Geburt einen Hirnschaden erlitt, die sich vor Verzweiflung und aus Enttäuschung von der „Schulmedizin“ abgewandt hat und sich nun nur noch homöopathisch behandeln lässt. Der Ehemann einer Patientin, deren Krebserkrankung zu spät erkannt wurde, weil sie ihre Vorsorgeuntersuchungen nicht wahrnahm. Er sucht dafür schon lange einen Schuldigen und versteht nicht, warum seine Frau nicht geheilt werden konnte. Und die Familie eines schwer neurologisch erkrankten Patienten, dessen Diagnose trotz fast zehn Jahre Erkrankung bisher niemand genau stellen konnte. Egal, wie viel Positives wir Ärzte bewirken, wie viele Krankheiten wir verhindern oder heilen – die Enttäuschungen prägen die Menschen leider stärker und nachhaltiger als die guten Dinge, die sie erfahren.

Jetzt starten wir wieder in ein neues Jahr. Und ich habe mir vorgenommen, die Patientinnen und Patienten direkt zu fragen, was sie für Erwartungen an mich haben, und ihnen klar mitzuteilen, was in meiner Macht steht und was nicht. Um keine zu hohe Erwartungen aufkommen zu lassen und um ihnen nach der Offenlegung der Fakten ggf. auch den Vorschlag zu machen, ihr Glück bei einem anderen Kollegen oder einer anderen Kollegin zu suchen. Meine Erwartungen an 2022 sind bewusst nicht hochgesteckt. Mein Wunsch lautet: Klare, offene und faktenbasierte Kommunikation.