Informationspolitik verfehlt ihr Ziel
Freitagnachmittag, endlich Gelegenheit bei meiner Änderungsschneiderin vorbeizuschauen. Ich war schon ein gutes Jahr nicht mehr dort und frage natürlich nach, wie sie in den letzten Monaten klargekommen ist und ob die ab dem nächsten Tag geltende Bundes-Notbremse Konsequenzen für ihr Geschäft haben wird.
Die Frau schaut mich verständnislos an: Notbremse, was soll das sein? Dass ab dem nächsten Tag ein neues Gesetz gilt, das für uns alle ganz konkrete Auswirkungen haben wird, ist ihr völlig neu. Meine Schneiderin hat türkische Wurzeln, spricht aber gut deutsch, ihr Sohn geht hier in die Schule. Sie könnte sich problemlos informieren. Hat sie aber nicht, warum? Ich frage nicht nach.
Theoretisch leben wir in einer Überflussgesellschaft, was Informationen rund um COVID-19 angeht. Praktisch gesehen werden aber nur jene Menschen zuverlässig erreicht, die aktiv solche Informationen abrufen – sei es im deutschen Fernsehen, in Internet, Zeitungen oder offiziellen Webseiten. Auch Menschen mit Migrationshintergrund könnten im Netz spezielle Seiten finden, etwa die der Integrationsbeauftragten. Dort sind die neusten Beschlüsse der Bundesregierung, praktische Hinweise zu Hygiene und Quarantäne sowie wichtige Ansprechpartner in 20 Sprachen abrufbar. Aber wer von der Zielgruppe weiß davon?
Hier in Wiesbaden gibt es ein Quartier, in dem Menschen aus mehr als 100 Nationen leben, der Migrantenanteil liegt bei 61 % (Andere Städte werden da locker mithalten können). Nach Erfahrungen der Stadtteilmanagerin informieren sich diese Menschen, wenn überhaupt, dann untereinander. Viel laufe über Mundpropaganda, zumal etliche der Migranten weder schreiben noch lesen könnten. Ein weiteres Problem: Oft werden nur die Fernsehsender des jeweiligen Heimatlandes geschaut, wo man mit der Pandemie ganz anders umgeht als in Deutschland.
Es besteht also dringender Handlungsbedarf, wenn man tatsächlich alle in Deutschland lebenden Menschen erreichen, informieren und schützen will. Mehr als ein Jahr hatte die Politik schon Zeit, ein klares Konzept dafür zu entwickeln. Passiert ist eindeutig zu wenig, wie nicht nur der Fall meiner Änderungsschneiderin zeigt.
Birgit Maronde
Chefredakteurin Medical Tribune