Impfdrängeln wird zum Volkssport
Seit Lockerungen für Geimpfte in Aussicht stehen und die Priorisierung mehr und mehr bröselt, scheint es für viele kein Halten mehr zu geben. Die einen fragen nassforsch beim Impfzentrum nach übriggebliebenen Impfdosen und versuchen, sich so irgendwie dazwischen zu mogeln. Andere malträtieren ihren Hausarzt mit E-Mails, um sich im Gedächtnis zu halten. „Sieben Ärzte habe ich angerufen, dann hat es endlich geklappt“, erzählte mir ein Bekannter vor zwei Tagen freudestrahlend. „Dienstag bekomme ich die erste Spritze.“ Ist das nun raffiniert oder einfach nur dummdreist?
Gut organisierte Unternehmen legen den Begriff „systemrelevant“ großzügig aus und stellen ihren Mitarbeitern pauschal Bescheinigungen aus, mit denen sich diese dann in der Priorisierungsgruppe 3 wiederfinden – auch wenn sie kerngesund und noch lange nicht an der Reihe sind und zu nahezu einhundert Prozent von zu Hause aus arbeiten.
Derweil macht sich Frust bei denen breit, die tatsächlich und für jedermann nachvollziehbar einen Anspruch auf baldige Immunisierung reklamieren können. Die Ehrenamtlichen der Freiwilligen Feuerwehren etwa, die oft noch vor dem Rettungsdienst am Unfallort sind und im Ernstfall an vorderster Linie anpacken. Oder die Beschäftigten im Lebensmitteleinzelhandel, in der Abfallwirtschaft, im Verkehrswesen. Oder die Erntehelfer, ohne die der Spargel oder die Erdbeeren nicht an die Markstände oder in die Supermarktregale kämen, und die in Gemeinschaftsunterkünften hausen und in Kleinbussen an die Felder gekarrt werden. Und dann wären da noch die Millionen Schüler und Schülerinnen, Studierenden und Auszubildenden, die – wenn sie sich nicht gerade durch den Distanzunterricht oder virtuelle Vorlesungen quälen – mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu Schule, Uni oder Ausbildungsstätte gelangen.
Gar keine Frage: Jeder Geimpfte ist ein Gewinn, und jeder Immunisierte schützt auch die anderen. Wo aber bleibt die gesellschaftliche Solidarität, wo ist die Rechtmäßigkeit des Regierungshandelns? Derzeit läuft wieder einmal etwas mächtig schief in diesem Land. Und das wirklich Schlimme daran ist: Kaum jemanden scheint das noch zu stören.
Tobias Stolzenberg
Freier Redakteur Medizin