Vieles darf, nichts muss
Die Coronaimpfung wirkt schon vor der Impfung. So oder so ähnlich lautete kürzlich eine Schlagzeile. Der dazugehörige Artikel beschäftigte sich mit dem Phänomen, dass die Wahrscheinlichkeit, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren, bereits in den Tagen vor dem Impftermin deutlich sinkt – weil die Menschen in diesem Zeitraum umso vorsichtiger sind. Ähnliches trifft vermutlich auch auf andere Daten zu: die bereits gebuchte Reise, die Hochzeit des besten Freundes, das anstehende Vorstellungsgespräch – nichts davon möchte man versäumen. Also passt man noch mal besonders auf, hält die Regeln noch ein klein wenig strenger ein und bleibt eher zu Hause, statt sich mit Freunden und Familie zu treffen. Und das, obwohl inzwischen vieles wieder erlaubt ist.
Doch so schön die Lockerungen sind: Mit ihnen kommt auch der soziale Stress zurück. Monatelang war „wegen Corona“ die Ausrede für alles, was nicht möglich war – aber auch für einiges, was man schlichtweg nicht wollte oder wozu man sich nicht aufraffen konnte. Ich würde ja gerne, aber es geht ja nicht … Leider, leider. Tja, da kann man nichts machen. „Wegen Corona“ durfte man auch mal Eigenbrötler sein, bei schönem Wetter drinnen bleiben, am Samstagabend zu Hause sitzen – und es war okay. Neinsagen wurde nicht nur akzeptiert, sondern gesellschaftlich gefordert. Das Zuhausebleiben als Heldentat. So brachte der Lockdown nicht nur Einschränkungen, sondern auch eine neue Art von Freiheit.
Die Pandemie hat in den vergangenen Monaten mit aller Deutlichkeit gezeigt, wie wertvoll soziale Kontakte sind. Sie hat aber auch daran erinnert, dass es nicht nötig ist, auf allen Hochzeiten zu tanzen. Und vielleicht ist das ja eine Erkenntnis, die man sich im neuen Post-Lockdown-Leben ab und zu ins Gedächtnis rufen sollte: dass zwar vieles wieder darf, aber trotzdem nichts muss.
Kathrin Strobel
Redakteurin Medizin