Keine Zwangsbehandlung für Straftäter – Neuroleptikagabe entgegen Patientenwillen widerspricht Grundgesetz

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Auch bei psychischen Erkrankungen in Haft sollte vor einer Zwangsbehandlung nach der Patientenverfügung gefragt werden. Der Schutz des Persönlichkeitsrechts auf Selbstbestimmung ist zu wahren. Auch bei psychischen Erkrankungen in Haft sollte vor einer Zwangsbehandlung nach der Patientenverfügung gefragt werden. Der Schutz des Persönlichkeitsrechts auf Selbstbestimmung ist zu wahren. © Jason – stock.adobe.com

Mit einer Patientenverfügung kann man vorsorglich lebensverlängernde Maßnahmen bei schwerer Erkrankung ausschließen. Man kann aber auch eine medizinische Zwangsbehandlung untersagen, wie das Bundesverfassungsgericht kürzlich klarstellte.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte über die Beschwerde eines im Maßregelvollzug untergebrachten Mannes mit Schizophrenie vom paranoid-halluzinatorischen Typ zu entscheiden. Der Erkrankte war auf Antrag des Krankenhauses wiederholt medizinisch zwangsbehandelt worden, obwohl er zuvor eine Anwendung von Neuroleptika untersagt hatte.

Aus Sicht des Zweiten Senats halten die zuvor gefällten Beschlüsse von Landgericht und Oberlandesgericht einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Der Senat hob diese auf und verwies den Fall zur erneuten Entscheidung an die Gerichte zurück.

Die Fachgerichte hätten der Bedeutung und Tragweite der Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG unzureichend Rechnung getragen. „Jede medizinische Behandlung einer Person gegen ihren natürlichen Willen greift in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ein“, erinnern die Richter. Dieses Grundrecht schütze die körperliche Integrität der Person und deren Selbstbestimmungsrecht. Dazu gehöre der Schutz gegen eine staatliche Zwangsbehandlung. Der Grundrechteeingriff einer Zwangsbehandlung einer untergebrachten Person mit Neuroleptika wiege sogar besonders schwer.

Zwar hält der Senat zum Schutz anderer Personen innerhalb der Maßregelvollzugseinrichtung eine Zwangsbehandlung grundsätzlich für gerechtfertigt. Allerdings hätten die Gerichte nicht auf die Rechte Dritter abgestellt, die in der Einrichtung womöglich tätlichen Angriffen durch den Beschwerdeführer hätten ausgesetzt sein können.

Jeder ist frei, über körperliche Integrität zu entscheiden

Auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das grundrechtlich geschützte Freiheitsinteresse der untergebrachten Person selbst könne eine staatliche Schutzpflicht auslösen, die eine Zwangsbehandlung zu rechtfertigen vermag, so die Richter. Allerdings dürfe eine Zwangsbehandlung nur als letztes Mittel eingesetzt werden, wenn mildere Therapien nicht mehr in Betracht kämen und eine weniger in die Grundrechte des Betroffenen eingreifende Behandlung aussichtslos sei.

Eine Zwangsbehandlung kann jedoch, wie die Richter bemerken, nicht gerechtfertigt werden, wenn sie im Zustand der Einsichtsfähigkeit vom Betroffenen wirksam ausgeschlossen wurde, so wie im vorliegenden Fall geschehen. Der Beschwerdeführer hatte bereits lange vor seiner Haft – im Jahr 2005 – in einer Patientenverfügung Anordnungen zu lebensverlängernden Maßnahmen sowie Fremdbluttransfusionen getroffen. Seine Mutter setzte er als bevollmächtigte Vertreterin ein. Zehn Jahre später, im Jahr 2015, erklärte er auch nochmals schriftlich, dass er es jedem Arzt, Pfleger und jeder anderen Personen verbiete, ihm Neuroleptika gegen seinen Willen zu verabreichen oder ihn dazu zu drängen.

Der Senat sieht damit keine Schutz- und Hilfsbedürftigkeit, die Voraussetzung für eine staatliche Schutzpflicht sei. Der Einzelne sei grundsätzlich frei, über Eingriffe in seine körperliche Integrität und den Umgang mit seiner Gesundheit nach eigenem Ermessen zu entscheiden, betont der Senat.

Jeder hat das Recht, Heilung abzulehnen

Das schließe die „Freiheit zur Krankheit“ ein und damit das Recht, auf Heilung zielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn diese nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt sind und deren Unterlassen zum dauerhaften Verlust der persönlichen Freiheit führen kann. Die Schutzpflicht des Staates trete hier zurück – vorausgesetzt, dass die Entscheidung gegen eine Behandlung mit freiem Willen und im Bewusstsein über ihre Reichweite getroffen worden sei. Es müsse auch fortlaufend überprüft werden, ob die jeweiligen Umstände und Krankheitssituationen noch von der Patientenverfügung gedeckt seien.

Quellen:
BVerfG-Beschluss vom 8. Juni 2021, Az.: 2 BvR 1866/17, 2 BvR 1314/18
Presseinformation des BVerfG