Einwilligungsfähigkeit Wann der Patientenwille bindend ist

Praxismanagement , Patientenmanagement Autor: Anouschka Wasner

Speziell im kritischen Alter zwischen 12 und 14 Jahren ist es wichtig, die Einsichtsfähigkeit sorgsam zu prüfen. Speziell im kritischen Alter zwischen 12 und 14 Jahren ist es wichtig, die Einsichtsfähigkeit sorgsam zu prüfen. © Sergey Novikov – stock.adobe.com

Dürfen sich Jugendliche ohne die Zustimmung der Eltern impfen lassen? Darf der Alkoholisierte einfach die Klinik verlassen? Darf sich die Betreute gegen den Willen der betreuenden Person gegen eine Behandlung entscheiden? Wie Sie entscheiden, ob Ihr Patient entscheiden kann.

Jeder ärztliche Eingriff ist eine Körperverletzung – es sei denn, der Patient hat in die Maßnahme eingewilligt. Wie aber umgehen mit der Nicht-Einwilligung von Patienten? Ob die Demenzkranke das Essen verweigert, Eltern den verhaltens­auffälligen Sohn einweisen lassen wollen oder die Magersüchtige mit bedenklichem BMI auf keinen Fall in die Klinik möchte: Der Arzt bzw. die Ärztin befindet sich dabei immer zwischen den Polen unterlassene Hilfeleistung und Strafanzeige wegen z.B. Freiheitsberaubung. Jeder Fall braucht eine individuelle Einzelentscheidung, sagt Dr. Carsten Köber, Haus- und Notarzt aus Bad Mergentheim.

Entscheidend sei, ob die Person juristisch gesehen einwilligungsfähig ist. Wann das der Fall ist, dazu gibt es jedoch keine einfache Regel. Die Einwilligungsfähigkeit stellt einen Teilbereich der Geschäftstüchtigkeit dar, der sich nur auf den medizinischen Eingriff bezieht. Deswegen ist für eine Einwilligung nicht zwingend die volle Urteilsfähigkeit oder Geschäftstüchtigkeit notwendig. Der Einwilligende muss jedoch „nach seiner geistigen und sittlichen Reife imstande sein, Wesen, Bedeutung und Tragweite des fraglichen Eingriffs zu erkennen und sachgerecht zu beurteilen“, zitiert Notarzt Dr. Köber eine juris­tische valide Definition.

Da sich die Fähigkeit zur Einwilligung also nur auf den Eingriff selbst beziehen muss, ist es naheliegend, dass sich Ärztin bzw. Arzt bei der jeweiligen Aufklärung von derselben überzeugt. Eine Einwilligung ohne Aufklärung gilt jedoch nicht nur in Fällen mit unklarer Einsichtsfähigkeit als nicht valide, sondern stellt auch in allen anderen Fällen die Rechtfertigung für einen Eingriff infrage. Juristisch spricht man von „rechtswidriger ärztlicher Eigenmacht“, warnt Dr. Köber. Einwilligungsfähigkeit und Aufklärung gelten damit als die beiden Grundvoraussetzungen für einen ärztlichen Heileingriff.  

Was gehört zu einer wirksamen Aufklärung?

  • Die Aufklärung muss mündlich durch den Arzt bzw. die Ärztin erfolgen, sie ist nicht delegierbar.
  • Die Aufklärung muss das Vorgehen bei der geplanten Dia­gnostik bzw. Therapie, die Erfolgsaussichten und Komplikationsrisiken, die Behandlungsalternativen sowie die möglichen Konsequenzen bei Nichtbehandlung umfassen.
  • Die Inhalte der Aufklärung müssen kognitiv und sprachlich verstanden werden.
  • Die Aufklärung darf nur in absoluten Ausnahmefällen „zum Schutz“ des Patienten bzw. der Patientin unvollständig erfolgen.

Problematisch wird die Situation, wenn nicht klar ist, ob die Person die Aufklärung verstehen kann. Offensichtlich steht das infrage, wenn die Sprachkenntnisse unzureichend sind. Er habe einen spanisch sprechenden Patienten mit einem gast­rointestinalen Infekt gehabt, erzählt Dr. Köber als Beispiel. Für eine Notfallbehandlung sei der mutmaßliche Wille des Patienten ausreichend gewesen. „Ohne Dolmetscher musste ich aber die weitere Behandlung ablehnen.“

Bei welchen Personengruppen besondere Vorsicht geboten ist

Minderjährige

Bei komplikationslosen Eingriffen wie einer Blutentnahme oder der chirurgischen Versorgung einer kleinen Wunde ist die Selbsteinwilligung auch für unter 14-Jährige unproblematisch. Aber auch grundsätzlich ist die Einwilligung kein Rechtsgeschäft, womit also auch Kinder grundsätzlich einwilligungsfähig sind. Arzt und Ärztin müssen sich jedoch davon überzeugen, dass der Minderjährige über die notwendige Einsichtsfähigkeit verfügt – und das unbedingt dokumentieren. In der Praxis ist es natürlich immer von Vorteil, sich die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters einzuholen, wenn dem nichts entgegensteht. Cave: Sind die Eltern getrennt und beide erziehungsberechtigt, müssen bei schwerwiegenderen Eingriffen immer beide Elternteile gefragt werden. Bei drohenden erheblichen Folgen für die Lebensgestaltung ist übrigens ein Veto des Kindes gegen die Elternentscheidung möglich – klassisches Beispiel hierzu wäre die Bluttransfusion bei Kindern von Zeugen Jehovas. Im Zweifelsfall ist dann ein Richter hinzuzuziehen, was über Notdienste auch nachts und an Feiertagen möglich ist. Eine Mit-Aufklärung hält Dr. Köber schon bei Kindern ab sechs Jahren für sinnvoll. Eine Coronaimpfung habe übrigens keine sonderlich große Tragweite. Haben Arzt oder Ärztin sich von der Einsichtsfähigkeit der Jugendlichen überzeugt, sachgerecht aufgeklärt und dokumentiert, bietet das Vorgehen im Grunde genommen keine juristischen Angriffspunkte.

Alkoholisierte

Anders als bei der Fahrtüchtigkeit gibt es für die Einwilligungsfähigkeit von Alkoholisierten keine gesetzlich festgelegte Promillegrenze – es gibt Urteile, die eine Einwilligungsfähigkeit noch bei über 2 bzw. bei 4 Promille als gegeben ansahen. Auch hier muss also die Einsichtigkeit individuell beurteilt werden. Gute Dokumentation ist wichtig!

Geistige Behinderung/psychische Erkrankung

Auch bei Demenz, Psychose oder geistiger Behinderung kann die Prüfung des Einzelfalls ergeben, dass eine Einwilligungsfähigkeit gegeben ist. Selbst bei Suizidwilligen ist z.B. die Einweisung gegen den eigenen Willen zunächst nicht grundsätzlich gedeckt. Anders stellt sich die Situation jedoch bei eintretender Bewusstlosigkeit dar: Ist der Wille des Patienten nicht zu ermittlen, gilt, was in Notfallsituationen gilt, ungeachtet der Vorgeschichte. Bei Betreuten kommt das Subsidiaritätsprinzip zum Tragen: Nur wenn der Patientenwille tatsächlich nicht ermittelt werden kann, entscheidet der Betreuer. Eine betreute Person könnte also durchaus gegen den Willen ihres Betreuers z.B. einer Zahnbehandlung widersprechen.

Als einwilligungsfähig gilt eine Person also, wenn sie die Informationen versteht, die Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen und bewerten kann sowie die Entscheidung für die Maßnahme aktiv fällt. In unklaren Fällen helfen entsprechend formulierte Fragen im Aufklärungsgespräch, erklärt Dr. Köber.  

Was hilft, festzustellen, ob eine Person einwilligungsfähig ist?

  • Prüfen Sie, ob der Patient alles Relevante verstanden hat: Lassen Sie sich die wichtigsten Informationen wiederholen, vermeiden Sie geschlossene und Suggestivfragen. Lassen Sie die Vor- und Nachteile des Vorgehens in eigenen Worten reproduzieren.
  • Prüfen Sie, ob die Person die Information auf sich beziehen kann, fragen Sie z.B.: „Welche Folgen wird die Behandlung für Sie haben?“ und: „Was könnte passieren, wenn Sie den Eingriff jetzt nicht machen?“
  • Prüfen Sie, ob die Person in der Lage ist, eine Wahl zu treffen: Hat sie ihre Entscheidung selbst geäußert und frei formuliert? Fragen Sie nach Argumenten: „Warum haben Sie sich so entschieden?“ In einigen Fällen bieten sich hier auch noch Interventionsmöglichkeiten, mit denen man nicht gerechnet hat – etwa wenn die Versorgung von Haustieren oder ähnlich lösbare Probleme als Grund für eine Nicht-Zustimmung genannt werden.
Komplexität und Tragweite einer Maßnahme spielen selbstverständlich auch eine Rolle: Die Zustimmung zu einer Operation muss umfassender geprüft werden als die zu einer weniger relevanten Maßnahme. Bei Routineeingriffen wie einer regelmäßigen Grippe­impfung muss keine neuerliche Aufklärung erfolgen. Ändert sich jedoch der Impfstoff, könne eine neue Aufklärung notwendig werden, so Dr. Köber. Nicht aufgeklärt werden muss zu Dingen, die dem Allgemeinwissen zugerechnet werden, wie etwa, dass es bei einer Behandlung zu Narbenbildung oder Hämatomen kommen kann. Und von einer hypothetischen Einwilligung kann ausgegangen werden, wenn eine Aufklärung zwar nicht ausreichend erfolgt ist, aber angenommen werden kann, dass der Patient zugestimmt hätte, wenn er von dem Risiko gewusst hätte – Beispiel Thromboserisiko bei einer kurativen Prostatakarzinom-Operation. Auch in Notfällen wird keine Zustimmung der Patienten vorausgesetzt, sie wird hier durch den mutmaßlichen Willen ersetzt. Wichtig ist die Dokumentation der Aufklärung. Die heutigen Praxisverwaltungssysteme seien im Prinzip revisionssicher, betont Dr. Köber. Man kann darin Änderungen vornehmen, die Software dokumentiert allerdings, wann die Änderung erfolgt ist. „Wenn Ihnen im Zuge der Abrechnung auffällt, dass Sie etwas vergessen haben: Tragen Sie es nach. Sie dürfen damit nur nicht warten, bis das Schreiben des Rechtsanwalts zu einer angeblich fehlende Aufklärung bei Ihnen eingegangen ist.“ Eine Unterschrift ist in Hausarztpraxen in der Regel weder vom Patienten noch von Arzt oder Ärztin notwendig. Ein spezieller Fall sei es aber, so Dr. Köber, wenn der Patient auf das ärztliche Gespräch verzichten möchte: „Das lasse ich mir in jedem Fall unterschreiben.“

Kongressbericht: 26. Practica in Bad Orb

Dr. Carsten Köber, Allgemein- und Notfallmediziner, Bad Mergentheim Dr. Carsten Köber, Allgemein- und Notfallmediziner, Bad Mergentheim © zVg