Medizin hinter Gittern als Anstaltsarzt, Vertragsarzt oder Telearzt
Allein in Nordrhein-Westfalen (NRW) werden rund 14 neue Kollegen für den ärztlichen Justizvollzugsdienst gesucht. Gegenwärtig werden nach Angaben des Landesjustizministeriums die 16 000 Gefangenen in den 36 Haftanstalten (JVA) des Landes von 47 Ärztinnen und Ärzten betreut.
Eine von ihnen ist Dr. Heike Schütt. Die Allgemeinmedizinerin mit der Zusatzbezeichnung Suchtmedizin versorgt 530 männliche Häftlinge in der JVA Essen. „Ich verstehe gar nicht, warum uns die Kollegen nicht die Tür einrennen“, sagt Dr. Schütt im Gespräch mit Medical Tribune. Sie könne ohne Budgetzwänge und Ärger mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) ihre Patienten versorgen. Das jedenfalls seien die Insassen der JVA für sie: Patienten, denen sie ohne Vorurteile mit Empathie gegenübertrete, möglichst freundlich. Freie Arztwahl hätten ihre Patienten nicht, aber das Arztgeheimnis gelte auch im Knast.
Krankheitsbilder sind dieselben wie „draußen“
Die Allgemeinärztin hat bis 2012 als Praxisvertretung „in der freien Wildbahn“ gearbeitet. Jetzt kann sie als „echter Hausarzt von den Knackis“ selbstverantwortlich arbeiten. Die Krankheitsbilder gleichen sich, Husten, Schnupfen, Heiserkeit, aber auch Diabetes oder Bluthochdruck. Aufgrund der unter den Häftlingen verbreiteten Drogenanhängigkeit treffe sie im Knast häufiger als „draußen“ auf Hepatitis C und HIV-Infektionen.
Auch die Ausstattung ihrer Praxis entspricht der einer Hausarztpraxis. Ein Präsenzlabor gehört dazu wie auch ein Ultraschallgerät und ein EKG. Ihre Patienten haben Anspruch auf das volle Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung, das beinhaltet die Akutbehandlung genauso wie Vorsorgeuntersuchungen. Bezahlt werde das von „Vater Staat“, sagt Dr. Schütt. Medikamente verordnet sie auch, sie gibt sie auch selber ab, denn als Anstaltsärztin hat sie Dispensier-Recht.
„Angst brauche ich nicht zu haben“, lacht die Ärztin. „Im Gegenteil, ich habe die sicherste Praxis des Landes.“ Sie wird von zwei Sanitätsbeamten unterstützt, die mit im Sprechzimmer sind. Im Konfliktfall kann sie den Hausalarm auslösen. Dann kommen ihr Justizvollzugsbeamte zur Hilfe. Das war aber nur einmal nötig. Ihre Arbeitszeit ist geregelt und ihr Gehalt reicht an das eines Oberarztes heran – „aber ohne den ganzen Stress im Krankenhaus“.
Zusätzlich zu den hauptamtlichen Anstaltsärzten arbeiten derzeit in NRW 180 Vertragsärzte auf Honorarbasis. In der JVA Düsseldorf unterstützt Dr. Michael Kirch, Allgemeinmediziner, mit seiner Sprechstunde die Versorgung der 850 männlichen Gefangenen. „Eigentlich läuft es so wie in meiner Hausarztpraxis. Die Patienten warten im Wartezimmer und kommen mit ihren Beschwerden zu mir“, berichtet Dr. Kirch. Berührungsängste gegenüber den Gefangenen kennt er nicht. „Sie behandeln den Arzt mit großem Respekt.“ Die JVA Düsseldorf hat einen Hochsicherheitstrakt für besonders gefährliche Straftäter. Ganz schwere Jungs würden auch schon mal von vier Beamten vorgeführt, berichtet der Allgemeinarzt.
Einschätzung der Suizidgefahr gehört zur Erstuntersuchung
Eine Besonderheit ist die Eingangsuntersuchung, zu der neben dem Ausschluss von ansteckenden Krankheiten auch die Einschätzung der Suizidgefahr gehört. „Da muss ich auf die Straftat schauen, da sie Einfluss auf die Suizidgefährdung haben kann“, erklärt Dr. Kirch. Die Honorierung seiner Arbeit beziffert der Arzt mit 80 bis 90 Euro die Stunde. Das sei aber von JVA zu JVA unterschiedlich.
Baden-Württemberg setzt auf Telemedizin. Hier sind von den 43 Stellen für hauptamtliche Anstaltsärzte 12 unbesetzt. Zusätzlich versorgen 63 Vertragsärzte die Gefangenen. In einem nach Angaben des Landesjustizministeriums bundesweit einmaligen Pilotprojekt ist der Einsatz in den Haftanstalten bereits erfolgreich erprobt worden.
Ein Dienstleister stellt die Teleärzte für einen Rund-um-die-Uhr-Bereitschaftsdienst sowie für die von den JVA angemeldeten Sprechstunden in Allgemeinmedizin und Psychiatrie zur Verfügung. Per Videokonferenz wird der Arzt der Krankenstation der JVA zugeschaltet. Die Mitarbeiter des Krankenpflegedienstes unterstützen die Telemediziner vor Ort bei Diagnostik und Behandlung.
Insgesamt wurden in der sechsmonatigen Pilotphase 316 Gefangene in fünf Anstalten behandelt. Alle Behandlungen seien „erfolgreich verlaufen“. Ein einziger Patient habe die Videobehandlung abgelehnt. Rund 95 % der Konsultationen seien durch die telemedizinische Behandlung abschließend gelöst worden. In den verbleibenden Fällen waren weiterführende Maßnahmen erforderlich.
Werbekampagne soll Ärzte für die JVA gewinnen
Eine Grundversorgung außerhalb der Strafanstalten ist eine wenig praktikable Alternative wegen des erheblichen Personal- und Kostenaufwands. In der Regel muss ein Gefangener von zwei Beamten begleitet werden. Nach Auskunft des Ministeriums dauert solch ein Besuch zwischen drei und vier Stunden. Auch das NRW-Justizministerium prüft jetzt den Einsatz von Telemedizin. Vor allem sollen eine Werbekampagne und Gehaltsverbesserungen für die dringend benötigten Anstaltsärzte sorgen.
Medical-Tribune-Bericht