Leben ist kein Schaden: Arzt haftet nicht für künstlich aufgeschobenen Tod

Gesundheitspolitik Autor: Dr. iur. Welf Kienle

Wer lebensverlängernde Maßnahmen ausschließen möchte, braucht eine Patientenverfügung. Wer lebensverlängernde Maßnahmen ausschließen möchte, braucht eine Patientenverfügung. © Photographee.eu – stock.adobe.com

Steht einem Menschen bzw. dem Erben Schmerzensgeld und Schadensersatz zu, weil ein Arzt Leiden mithilfe künstlicher Ernährung verlängert hat? Der Bundesgerichtshof hat diese Frage verneint. Rechtsanwalt Dr. Welf Kienle aus Koblenz ordnet dieses aktuelle Grundsatzurteil ein.

Jeder hat das Recht auf Leben“ heißt es in Artikel 2 Grundgesetz. Das Recht misst dem Leben also einen so hohen Stellenwert bei, dass es dem Einzelnen grundsätzlich die Verfügungsbefugnis darüber abspricht und dem Staat die Abwägung von Leben gegen Leben verbietet. Das einzelne Leben darf auch nicht geopfert werden, um andere – unter Umständen zahlreiche – Leben zu retten.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte jetzt über die Frage zu entscheiden, ob Leben auch ein Schaden sein kann, der – hier im Rahmen ärztlicher Haftung wegen Lebenserhaltung durch künstliche Ernährung – mit Geld zu entschädigen sei.

Geklagt hatte der Sohn eines im Jahr 2011 verstorbenen Patienten, der zuvor bewegungs- und kommunikationsunfähig an fortgeschrittener Demenz litt. In den letzten Jahren vor seinem Tod wurde er mittels PEG-Magensonde künstlich ernährt, eine Patientenverfügung hatte er nicht. Der Beklagte war ein Allgemeinarzt, der den Patienten hausärztlich betreut hatte. Nach Auffassung des Klägers hat die künstliche Ernährung spätestens seit dem Jahr 2010 nur noch zu einer sinnlosen Verlängerung des Leidens seines Vaters geführt. Er verlangte Schmerzensgeld und Ersatz der Behandlungskosten.

Sondenernährung zu wenig mit dem Betreuer besprochen?

Während die Klage zunächst abgewiesen wurde, sprach das Berufungsgericht dem Kläger ein Schmerzensgeld von 40 000 Euro zu. Beide Instanzen stellten fest, dass lebenserhaltende Maßnahmen seit dem Jahr 2010 nicht mehr medizinisch indiziert waren, und sahen grundsätzlich einen Pflichtverstoß des Arztes darin, dass er die Fortsetzung der Sondenernährung in dieser Situation nicht eingehend mit dem Betreuer des Patienten erörtert hatte.

Für den BGH war die Frage, ob der Mediziner tatsächlich Pflichten verletzt hatte, nicht mehr relevant. Für die Karlsruher Richter fehlt es an einem entstandenen Schaden. Das menschliche Leben sei ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Ein Urteil über seinen Wert stehe keinem Dritten zu. Es verbiete sich, ein Weiterleben als Schaden anzusehen. Wenn ein Patient sein Leben für lebensunwert erachte, hätten lebenserhaltende Maßnahmen zwar zu unterbleiben, der Rechtsprechung sei indes durch die Verfassung die Schlussfolgerung verboten, dieses Leben sei ein Schaden.

Ein Anspruch auf Ersatz der Behandlungskosten bestehe nicht, da es nicht Schutzzweck der dem Behandler obliegenden Pflichten sei, wirtschaftliche Belastungen, die mit dem Weiterleben und seinen krankheitsbedingten Leiden verbunden sind, zu verhindern. Insbesondere dienten diese Pflichten nicht dazu, den Erben das Vermögen des Patienten möglichst ungeschmälert zu erhalten.

Das schriftliche Urteil wurde noch nicht veröffentlicht, gleichwohl folgten der Entscheidung kontroverse Reaktionen. Während der Präsident der Bundesärztekammer, Professor Dr. Frank Ulrich Montgomery, die Klarstellung des BGH für Ärzte als wichtig und richtig erachtet, halten Kritiker das Urteil für problematisch. So wird befürchtet, Ärzte könnten nun ohne jede Sanktion auch austherapierte Patienten endlos weiterbehandeln und seien den Angehörigen nicht einmal zum Ersatz der entstehenden Kosten verpflichtet.

Medizinischer Fortschritt bewirkt moralisches Dilemma

Die Frage nach dem Zeitpunkt, ab dem es falsch sein kann, einen Patienten weiter am Leben zu erhalten, ist komplex. Ein moralisches Dilemma im Gefolge des medizinischen Fortschritts. Dass dieser Zeitpunkt kommen kann, wird heute kaum mehr ernsthaft in Abrede gestellt. Würde und Autonomie des Patienten haben einen hohen Stellenwert.

An den ärztlichen Pflichten hat das Urteil nichts geändert. Jeder ärztliche Eingriff stellt tatbestandlich eine Körperverletzung dar, die nur durch die Einwilligung des Patienten gerechtfertigt ist. Lehnt der Patient die Behandlung ab, ist dies zu respektieren, auch wenn das einen früheren Tod bedeutet.

Weitermachen oder ­Aufhören ­– ­eine Gratwanderung

Vor der schwierigsten Situation steht der Arzt, wenn der Patient keinen Willen geäußert hat und auch keinen mehr äußern kann. Die Entscheidung über Einleiten, Fortführen oder Beendigen lebenserhaltender Maßnahmen wird dann oft zur Gratwanderung.

In § 1901b Bürgerliches Gesetzbuch ist die Pflicht des behandelnden Arztes normiert, in dieser Situation zu prüfen, welche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten indiziert ist. Das ist mit dem Betreuer unter Berücksichtigung des Patientenwillens zu erörtern. Auch nahen Angehörigen und Vertrauenspersonen soll Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden, wenn das ohne erhebliche Verzögerung möglich ist.

Entscheidungen auf dieser Grundlage waren vor dem Urteil des BGH nicht leicht und werden es auch künftig nicht sein. Dass das Risiko möglicher Schadensersatzforderungen aufgrund der Erhaltung eines Lebens dem besonnenen Verhalten der behandelnden Ärzte zuträglich gewesen wäre, darf bezweifelt werden.

Quelle: BGH-Urteil vom 2. April 2019, Az.: VI ZR 13/18

Medical-Tribune-Bericht