GKV-Finanzstabilisierungsgesetz „Leidtragende sind die Patienten“

Gesundheitspolitik Autor: Michael Reischmann

Die Hauptlast des Defizitausgleichs werden die Beitragszahler tragen. (Agenturfoto) Die Hauptlast des Defizitausgleichs werden die Beitragszahler tragen. (Agenturfoto) © iStock/Drazen Zigic

„Bestürzt“ und „empört“, kommentieren KV-Vertreter den Kabinettsentwurf des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes. Die KBV-Spitze spürt einen Schlag ins Gesicht der Patienten; Prof. Lauterbachs „Maske ist gefallen“. In Berlin ruft die KV die Praxen auf, am 7. September die Türen abzuschließen.

2023 muss ein geschätztes Defizit der Krankenkassen von mindestens 17 Mrd. Euro ausgeglichen werden. Nach den Angaben im Gesetzentwurf des Bundeskabinetts sollen die Vertragsärzte dazu Mindereinnahmen in Höhe eines „mittleren dreistelligen Millionenbetrags“ hinnehmen. Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) der KBV und KVen spricht von rund 400 Mio. Euro. Die Summe bezieht sich auf die geplante Streichung der extrabudgetären Vergütung für die Behandlung von Patienten, die sich erstmals oder nach einer Abwesenheit von über acht Quartalen in einer Praxis vorstellen.

Höhere Zusatzbeiträge, geringere GKV-Reserven

Ihr Scherflein beisteuern sollen auch die Apotheker (170 Mio. 2023 und 2024) und die Zahnärzte (2023: 120 Mio., 2023: 340 Mio.). Die Hauptlast des Defizitausgleichs werden aber die Beitragszahler tragen – über einen mindestens 0,3 Prozentpunkte höheren Zusatzbeitrag (4,8 Mrd. Euro), das fast vollständige Abschmelzen der Kassenrücklagen (4 Mrd.), den Abbau der Liquiditätsreserve (2,4 Mrd.) sowie die Tilgung eines unverzinsliches Darlehens des Bundes an den Gesundheitsfonds (1 Mrd.). Die Steuerzahler übernehmen den zusätzlichen Zuschuss des Bundes für 2023 (2 Mrd.). Der allgemeine Herstellerabschlag, der insbesondere für patentgeschützte Arzneimittel gilt, soll – auf ein Jahr befristet – um 5 Prozentpunkte angehoben werden und so die Kassen um rund 1 Mrd. Euro entlasten. Von Neuregelungen beim Erstattungsbetragsverfahren (AMNOG) erwartet die Regierung künftig Einsparungen von jährlich 685 bis 785 Mio. Euro.

255 Neupatientenfälle pro Praxis und Quartal

Erscheint da die Aufregung der Ärztefunktionäre nicht übertrieben? Das Zi liefert Zahlen, die die Bedeutung der Neupatientenregelung aus dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) unterstreichen sollen:
Im vierten Quartal 2021 wurde mehr als jeder vierte GKV-Patient „neu“ behandelt (+ 12 % gegenüber 2019). Die häufigsten Anlässe hatten mit Schwangerschaft und Geburt, Krankheiten des Ohres, des Auges und des Atmungssystems sowie Infektionen zu tun. 8,7 Mio der insgesamt 25,9 Mio. Neupatientenfälle im 4. Quartal 2021 wurden von Haus­ärzten abgerechnet. Durchschnittlich werden 255 Neupatientenfälle pro Praxis und Quartal behandelt, bei HNO- und Hautärzten sind es 700 (38 bzw. 34 % aller Behandlungsfälle), bei Augenärzten rd. 650 (27 %) und Orthopäden 550 (33 %). In Hausarztpraxen machen Neupatienten 15 % aller Fälle aus.

Im 4. Quartal 2021 wurden 9,8 GOP pro Neupatient abgerechnet (4/19: 9) und 14,8 GOP pro Nicht-Neupatient (4/19: 14). Insbesondere in Berlin, Hamburg und Schleswig-Holstein erhielten Neupatienten „deutlich mehr Leistungen“ pro Kopf, so das Zi. Es erklärt, dass die Abrechnungsdaten keinen Hinweis darauf geben, „ob und inwieweit sich Wartezeiten verändert haben“.

AOK-Bundesverband will „eine echte Nullrunde bei allen Leistungserbringenden“

Die Empörung von Vertretern von KVen und Ärzteverbänden bezieht sich aber nicht nur auf die geplante Zurücknahme der Neupatientenregelung. Sie fürchten weitere Einbußen durch eine Einschränkung der extrabudgetären Vergütung für Leistungen in „offenen Sprechstunden“. Zudem könnte die Ampel ihre  Zusage im Koalitionsvertrag zur Abschaffung der Hausarztbudgets kassieren. Und der AOK-Bundesverband fordert sogar „eine echte Nullrunde bei allen Leistungserbringenden“ – unbeeindruckt von der hohen Inflationsrate.

KV Berlin ruft Praxen zur eintägigen Schließung auf

Die Vorsitzenden von Vorstand und Vertreterversammlung der KV Berlin wollen nicht hinnehmen, dass die „bescheidenen Verbesserungen des TSVG zurückgedreht werden“. Sie rufen die Praxen in der Hauptstadt zu einem Aktionstag am 7. September auf. Die Praxen sollen dann geschlossen bleiben, um ihren MFA die Teilnahme an einer Aktion des Verbandes der medizinischen Fachberufe am Brandenburger Tor zu ermöglichen oder um einer Online-Weiterbildungsveranstaltung der KV zu folgen. Der KBV-Vorstand kündigte an, sich mit den KVen und den Berufsverbänden das weitere Vorgehen zu beraten und abzustimmen.

„Lauterbachs Politik wird zum Sargnagel der ambulanten Versorgung. Seine Fehlsteuerung der GKV-Finanzen ist der Tropfen, der das Fass zu Überlaufen bringt“, äußert sich der Virchowbund. Aufgrund wirtschaftlichen Sorgen angesichts steigender Kosten und „eines existenziellen Fachkräftemangels“ hätten Praxisinhaber „Hunderte Briefe“ an ihre Wahlkreisabgeordneten geschickt, um „auf die desaströsen Auswirkungen für Patienten aufmerksam“ zu machen. 

„Leidtragende sind letztlich weniger die Ärzte als die Patienten, denen jetzt die Möglichkeit eines schnellen, unkomplizierten Zuganges zur medizinischen Versorgung wieder genommen wird“, kommentiert der Chef der KV Niedersachsen, Mark Barjenbruch, Prof. Lauterbachs Wende bei der Neupatientenregelung.

KV-Chef: Regierung wirft Ärzten und Psychotherapeuten Knüppel  zwischen die Beine

„Es darf niemanden wundern, wenn die Ärztinnen und Ärzte den politischen Vorgaben folgen und dann auch weniger Termine zur Verfügung stellen können“, warnt Baden-Württembergs KV-Chef Dr. Norbert Metke. Sein bitteres Fazit: „Nachdem Minister Spahn sich durch extremen Aktionismus ausgezeichnet hat, bekommen unsere Mitglieder unter der aktuellen Regierung einen Knüppel nach dem anderen zwischen die Beine geworfen.“ 

Der Hartmannbund setzt darauf, dass Lobbyarbeit und öffentlicher Druck dazu führen, dass auch in diesem Fall wieder der Satz des ehemaligen SPD-Politikers Peter Struck gilt: Kein Gesetz verlässt das Parlament so, wie es hineingekommen ist.

Medical-Tribune-Bericht