Neupatiententregelung Pro und Kontra der drohenden Budgetierung

Gesundheitspolitik Autor: Michael Janßen/Dr. Dirk Heinrich

Die Behandlung neuer Patienten wird extrabudgetär vergütet. Die Regelung soll aber fallen. Was spricht für die Streichung, was dagegen? Die Behandlung neuer Patienten wird extrabudgetär vergütet. Die Regelung soll aber fallen. Was spricht für die Streichung, was dagegen? © H_Ko – stock.adobe.com

Die Abschaffung der Neupatientenregelung sorgt für einige Diskussion unter den Ärzten und Ärztinnen. Einiges spricht dafür, einiges aber auch dagegen.

Pro: „Ärztliche Sorge gilt den GKV-Honoraren“

Die Budgets mussten 1993 eingeführt werden, nachdem das leistungsanbieterorientierte System der unbegrenzten Einzelleistungsvergütung als Selbstbedienungsladen zu massivem Punktwertverfall führte. Inzwischen ist die Tendenz, wieder zunehmend Leistungen extrabudgetär zu vergüten. Vielfach ist jedoch erwiesen: Finanzielle Anreize für Leistungen lassen diese in die Höhe schnellen, geringere Anreize führen zur Vernachlässigung – beides unabhängig vom medizinischen Bedarf und beides zum Schaden der Patient*innen.

Durch die Neupatientenregelung sollten Wartezeiten insbesondere in der Psychotherapie und in fachärztlichen Praxen reduziert werden. Fünf offene Sprechstunden pro Woche mussten freigegeben werden, die Pflichtstundenzahl wurde auf 25 erhöht. Der Einfluss der KBV führte dazu, dass die in diesen Zeiten neu aufgenommenen Patient*innen („neu“ heißt auch, seit zwei Jahren nicht in der Praxis behandelt) extrabudgetär honoriert werden. Die Realität sah dann so aus, dass die auch vorher schon regelmäßig aufgenommenen neuen Patient*innen nun extrabudgetär honoriert wurden, die Regelleistungsvolumina aber um diese Fälle bereinigt wurden. Die reale Honorarsteigerung hielt sich somit – zumindest im hausärztlichen Bereich – in Grenzen. Bei gleichbleibender Fallzahl nimmt selbstverständlich jede Praxis regelmäßig neue Patient*innen auf, weil andere wegziehen, die Praxis wechseln oder versterben.

Trotzdem regt sich gegen die Rücknahme der Neupatientenregelung Protest: 50.000 Unterschreibende eines offenen Briefes der KBV drohen unverhohlen mit Leistungsbegrenzung, da die Praxen wirtschaftlich unter extremem Druck stünden. Verklärend heißt es dazu: „mit großer Sorge um die Versorgung unserer Patientinnen und Patienten“. Die Rückführung der „Neu“-Patient*innen in die Budgets führt aber schlimmstenfalls zur reduzierten Honorierung (was den erwarteten Einspareffekt für die GKV deutlich reduziert).

Das im Brief gezeichnete Bild der flächendeckend kritischen ökonomischen Lage der Niedergelassenen ist nicht gerechtfertigt: Über alle Fachgruppen ist auch in den letzten Jahren die Entwicklung der GKV-Honorare stabil bis leicht steigend. Allerdings gibt es innerhalb dieser Durchschnittswerte eine erhebliche Ungleichheit bei den Praxiseinnahmen. Die Corona-Rettungsschirme und die Impfvergütungen haben die Praxen insgesamt gut durch die Pandemie gebracht. Die „große Sorge“ gilt also wohl eher wieder einmal den in fast allen Praxen erzielbaren vorzüglichen, krisensicheren GKV-Einkommen.

Zwei wichtige Ursachen der Terminknappheit wurden weder im TSVG noch im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz berührt:

  • die Tendenz von Fachärzt*innen, regelmäßig dieselben Patient*innen zu terminieren, selbst wenn diese stabil eingestellt sind und von Primärärzt*innen geführt werden könnten, da diese bei geringerem Aufwand dasselbe Honorar wie neue Patient*innen einbringen;
  • die sich selbst ad absurdum (siehe Wartezeiten) führende Ideologie der freien Arztwahl und die beständige Ablehnung einer durch Primärärzt*innen gesteuerten fachärztlichen Versorgung; so gelangen viele Patient*innen in Facharzt-Praxen, die dort nicht hingehören.

Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz zielt auf das Problem des Kostendrucks in der GKV mit den erwarteten hohen Defiziten. Dieses könnte langfristig angegangen werden mit einer solidarischen Bürger*innenversicherung, die alle Einkommen und Einkommensarten in voller Höhe verbeitragt. Die FDP hat dies kategorisch abgelehnt und sich im Koalitionsvertrag damit durchgesetzt. Statt die Zusatzbeiträge aller Versicherten sowie Steuern zu erhöhen, könnten die Beitragsbemessungs- und die Versicherungspflichtgrenze im Sinne einer Solidarisierung massiv angehoben oder aufgehoben werden.

Kontra: „Schwerer Vertragsbruch seitens der Politik“

Bereits seit 1993 besteht die Budgetierung der Honorare für ärztliche Leistungen und damit eine Planwirtschaft für den freien Beruf der Ärztinnen und Ärzte. Morbidität und Demografie sorgen allerdings dafür, dass das Budget für die medizinische Versorgung (morbiditätsbedingte Gesamtvergütung (MGV)) aufgebraucht ist und somit der Preis für die medizinische Leistung „verfällt“, technisch gesprochen: abgestaffelt wird. Die übers Budget entstehenden Mehrkosten für Behandlungen tragen die Ärztinnen und Ärzte dann selbst, sie erbringen ärztliche Leistungen also umsonst. In den vergangenen Jahren summiert sich der so ins Gesundheitssystem eingebrachte „Soli­darbeitrag“ der Ärztinnen und Ärzte auf rund 100 Milliarden Euro. Die aufwendigere Behandlung von Neupatienten außerhalb des Budgets zu vergüten, war Ziel des Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) der letzten Legislatur der Bundesregierung und zugleich ein wichtiges Signal als Einstieg in die Entbudgetierung der Leistungen der Ärztinnen und Ärzte.

Mit dem TSVG-Paket sollte ein Anreiz geschaffen werden, mehr Termine zur Verfügung zu stellen und mehr Neupatienten aufzunehmen. Gleichzeitig wurde die Sprechstundenzeit für Ärztinnen und Ärzte im Bundesmantelvertrag für Ärzte und in der Zulassungsverordnung um fünf Stunden pro Woche erhöht. Die extrabudgetäre Vergütung für die Aufnahme von Neupatienten wurde mit dieser Erhöhung der Sprechstundenzeit als Paketlösung entsprechend gegenfinanziert. Sollte die Neupatientenregelung entfallen, müsste also auch die Erhöhung der Sprechstundenzeit zurückgenommen werden. Dies ist aber nicht vorgesehen. Für die Ärztinnen und Ärzte kommt dies einem schweren Vertrags- und Vertrauensbruch seitens der Politik gleich.

Ob Budgetierung über drei Jahrzehnte, dauerhaftes Warten auf die GOÄ-Novelle, gesetzliche Verpflichtung zur Beteiligung an Investitionen in eine mangelhafte digitale Infrastruktur oder die Erhöhung des Punktwertes um lediglich 2 % als Inflationsausgleich: viele Faktoren machen den freien Beruf Ärztin oder Arzt und eine Niederlassung für Ärztinnen und Ärzte immer unattraktiver. Die Diskussion um den Wegfall der Neupatientenregelung befeuert diese Entwicklung. Die Folgen: Viele ältere Ärztinnen und Ärzte sind immer weniger bereit, über das gewohnte Ruhestandsalter hinaus ihre Praxen zu betreiben und es droht eine Ruhestandswelle. Gleichermaßen finden sie aber auch keine Nachfolge für ihre Praxis, denn junge Ärztinnen und Ärzte scheuen in Anbetracht der o.g. Signale eine eigene Niederlassung. 

In Deutschland herrscht Ärztemangel, insbesondere in sozial- oder strukturschwachen Regionen. Dieser wird sich noch verschlimmern und es ist der falsche Zeitpunkt, den wichtigen Schritt in Richtung Entbudgetierung durch die TSVG-Neupatientenregelung wieder zurückzunehmen – es sei denn man ist der Überzeugung, Deutschlands Gesundheitsversorgung brauche keine ambulanten Strukturen, und man nimmt in Kauf, dass die medizinische Versorgung gerade in prekären Stadtteilen mit sozialen Brennpunkten besonders benachteiligt wird, denn dort gibt es die höchste Rate an Neupatienten.

Aktuelle Auswertungen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland (Zi) zeigen unter anderem, dass mehr als jede/r vierte gesetzlich versicherte Patientin und Patient von der Regelung begünstigt wurde und die Anzahl der Neupatienten im vierten Quartal 2021 gegenüber dem vierten Quartal 2019 um 12 % gestiegen ist. Der Anteil der Neupatienten an allen Patienten stieg dabei um 7,5 %. Darüber hinaus ist klar ersichtlich, dass es sich bei diesen Neupatienten überwiegend um Neuerkrankte handelt, die eine zeitnahe medizinische Behandlung benötigen.