Kommentar Machen wir uns ehrlich!
Warum nur ist es so schwer, ein guter Mensch zu sein? Meistens wissen wir sehr wohl, was richtig ist und was falsch – und handeln doch allzu oft nicht entsprechend. Tierwohl und Biofleisch? Keine Frage, ich bin dafür, mir fehlt’s aber am Geld. Ehrenamtliches Engagement? Das ist eine tolle Sache, nur habe ich wirklich keine Zeit für so etwas. Die Flugreise für ein paar schöne Urlaubstage? Das habe ich mir ja wohl verdient, und schließlich machen das doch alle.
Was uns künftig ins Haus steht, wissen wir oft schon heute. Klimakrise, Ukraine-Krieg, Energieabhängigkeit: All das haben wir – Hand aufs Herz – kommen sehen. Die Probleme sind zum Teil seit Jahrzehnten bekannt.
Ausflüchte und gute Gründe, das Falsche zu tun und das Richtige zu lassen, finden wir zur Genüge. Mit schöner Regelmäßigkeit machen wir uns die Welt, wie sie uns gefällt, und der moralische Buchhalter in uns verschafft uns zuhauf Freibriefe für an sich tadelnswertes Verhalten. Entgegen der landläufigen Meinung macht prosoziales Verhalten offenbar nicht per se glücklich. Sonst sähe es um uns herum sicher anders aus. Viele ziehen nun einmal Glück, Zufriedenheit und Lebenssinn aus einer starken Karriere, aus Besitz, Konsum oder Macht. Und es gibt Menschen – auch das ist eine Wahrheit – die von Natur aus knallhart egoistisch und unmoralisch sind.
Dabei finden sich für vermeintlich unpopuläre Maßnahmen, mit denen sich Klimakrise, Energieabhängigkeit oder dem anstehenden Coronaherbst begegnen ließe, überraschend häufig Mehrheiten. So unterstützten – man mag’s kaum glauben – etwa die Hälfte der FDP-Wähler und -Wählerinnen im März die Forderung nach einem temporären Tempolimit, um unser Land von russischem Öl unabhängiger zu machen.
Warum eigentlich wird in Deutschland so oft Politik für einflussreiche Minderheiten gemacht? Wir sollten vielmehr schauen, was die Mehrheit der Bevölkerung wirklich möchte und uns nicht von Wenigen sagen lassen, was wir angeblich nicht wollen. Und hier liegt der Hase im Pfeffer: Wenn wir ständig unterschätzen, was die Menschen tatsächlich zu tun bereit sind, wird sich bei vielen Problemen auch nichts bewegen. Denn die meisten um uns herum sind „bedingt kooperativ“: Wenn sie wissen, die anderen machen auch etwas, sind sie bereit mitzuziehen. Machen wir uns also endlich ehrlich! Stehen wir zu unseren Überzeugungen und lassen wir die psychologischen Tricksereien und die faden Ausreden!
Tobias Stolzenberg
Freier Redakteur Medizin