Praxiskolumne Manchmal müssen wir mehr wie „Dr. House“ sein
In meinen 17 Jahren als Ärztin hatte ich immer wieder solche Fälle. Häufig waren sie schon länger durchs Raster gefallen. Sie waren etwas außergewöhnlich in irgendeiner Beziehung. Und dann kniet man sich rein. Versucht, so viele Vorbefunde wie möglich durchzuarbeiten, verfolgt mal die eine, mal die nächste Hypothese. Beißt sich die Zähne an festgefahrenen Meinungen aus. Und ja, häufig ist auch die Meinung und Perspektive der Betroffenen festgefahren. Oder die eigene. Viele Male muss man sich geschlagen geben, wenn man trotz aller Bemühungen den Zustand nicht verbessern kann. Besonders unzufriedenstellend ist, wenn man „dem Kind keinen Namen geben kann“. Sprich, wenn man auch nach gründlichen Untersuchungen und Ausschluss von Differenzialdiagnosen sich auf keine Diagnose festlegen kann.
Anfangs ist man noch ein plötzlicher Hoffnungsschimmer für diese Personen – denn stellen Sie sich mal vor, wie das sein muss: abgelegt auf die Resterampe der „komplizierten“ Patienten, für die sich niemand zuständig fühlt. Mir wird immer ganz schlecht von den geweckten Erwartungen. Denn ja, ich knie mich rein – aber ob das von Erfolg gekrönt sein wird? Who knows.
Schon immer hat mich so etwas gereizt: Ein Rätsel, das geknackt werden muss. So ein bisschen Dr. House sollte ja in jedem von uns stecken. Aber seit meiner eigenen Erfahrung mit einer Erkrankung, die niemand einordnen konnte, und bei der ich merkte, dass ich auch als Kollegin allein für mich und meine Abklärung kämpfen muss, bewegt mich das Schicksal solcher Menschen noch mehr.
Vielleicht war es hilfreich, mal in der Rolle zu stecken, in der man schmerzgeplagt an den Kopf geworfen bekommt: „Sie wissen ja als Kollegin: Wenn Sie mal die Gynäkologie-Vorsorge vergessen haben, dann kann das jetzt auch eine Knochenmetastase sein. Sieht fast so aus. Aber das klären wir wann anders. Frohe Weihnachten!“
Oder wie mehrere Kollegen unterschiedlicher Fachdisziplinen nur mit den Schultern zuckten und meinten: „Nicht mein Fachgebiet.“ Meine Patientenkarriere hatte zum Glück ein gutes Ende. Aber stellen Sie sich vor, Sie können sich kaum noch selbst versorgen. Alles ist zu viel. Ein Gefühl wie eine Lähmung, und Sie wollen doch etwas tun! Sie müssen doch etwas tun! Aber nicht einmal mehr richtig schlafen geht!
Und dann sagt man Ihnen: „Dann streng Dich halt mal an!“ Das sei psychosomatisch, jetzt komme die schwere Kindheit zum Tragen. Oder: So schlimm könne das gar nicht sein, diese Diagnose gebe es gar nicht. Und sowieso: „Damit kenne ich mich nicht aus. Ich kann Ihnen nicht helfen. Gehen Sie woanders hin.“ Und Ihre Krankheit schreitet fort, Ihre Hoffnung schwindet. Ihre Ängste steigen. Die sozialen Nöte nehmen zu. Sie vereinsamen langsam. Denn selbst Gespräche sind anstrengend. Die wenigsten Bekannten und Verwandten haben Verständnis. Sie sind halt eine oder einer von denen, die „verschwinden“.
Ja, am Ende meiner optimistischen Suche nach der richtigen Diagnose oder Therapie stand ich bei manchen Patienten da und musste eingestehen: Hier scheint den größten Anteil die Psyche zu haben. Aber wenn ich ganz ehrlich zurückdenke, dann waren da vielleicht auch einige schwarze Flecken in meiner medizinischen Sicht. Aber das ist auch ok. Denn wer bitte kann das alles wissen?
Wir haben das faszinierendste Gebiet der Wissenschaft: Medizin. Und unser Wissen ist bei Weitem noch nicht komplett. Täglich entdeckt man Neues darüber, wie das Wunder „Mensch“ überhaupt leben kann. Daher denke ich, lohnt es sich, genau hinzusehen. Wir schulden es auch unseren Patienten, zuzuhören. Nein, wir müssen keine Doppeldiagnostik machen. Aber wir sollten uns kümmern und unser Bestes geben. Auch wenn wir etwas nicht verstehen, nicht wissen. Wir sind keine fertigen Ärzte, wenn wir die Approbation haben. Wir sind nie fertig mit lernen.
In der aktuellen Situation wünsche ich mir mehr Dr. Houses, mehr offene Ohren, mehr Sokrates („ich weiß, dass ich nichts weiß“). Und ja, mehr Idealisten. Die davon träumen, Rätsel zu knacken und damit Menschen zu helfen.