Praxiskolumne Ich fühle mich beim Thema trans* noch überfordert
Manchmal stimmt die Selbstdiagnose sogar, oft beruht sie aber auf Googlesuchen und kann durch Anamnese und Untersuchung schnell aufgelöst werden. Nach 20 Jahren Tätigkeit als Hausärztin kommen aber immer noch Situationen vor, die mich überfordern. In den letzten drei Monaten ist mir das nun bereits zweimal in Bezug auf die Selbstdiagnose Transsexualität bei Jugendlichen passiert.
So erklärte mir eine 14-Jährige, sie sei sich sicher, im falschen Körper zu sein. Sie hatte bereits beim Erstkontakt einen Internetausdruck dabei mit dem Namen des Hormons, was ich ihr nun bitte gleich verschreiben solle. Sie habe sich bereits informiert und mit ihren Freundinnen lange darüber gesprochen. Alternativ schlug sie mir die Überweisung an einen Endokrinologen oder in eine Genderambulanz vor. Auf den hausärztlichen Vorschlag, ob wir die Sachlage vielleicht erst mal genauer in einem längeren Gesprächstermin erörtern wollen, um weitere Handlungsoptionen auszuloten, fing sie an, mich massiv unter Druck zu setzten. Sie würde sich ritzen, wenn ich ihr nicht helfen wolle. Ich gestehe, dass dies bei mir zunächst eine sehr große Hilflosigkeit auslöste. Ein Blick in die Leitlinien half auch nicht viel weiter, die werden nämlich gerade überarbeitet.
Kolleginnen und Kollegen berichten mir, dass sie ebenfalls mit einer Häufung der Selbstdiagnose trans* konfrontiert sind. Von Jugendlichen selbst höre ich, dass in Schulklassen die Transsexualität verstärkt diskutiert wird, weil zunehmend mehr Jugendliche ihr Geschlecht infrage stellen. Junge Menschen sind in diesem Alter auf Identitätssuche und vielleicht wäre es hilfreich, wenn ein Einordnungsversuch und eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema auch im Unterricht stattfinden würden.
Seit Längerem geplant ist ein Selbstbestimmungsrecht, in dem jeder und jede den bisherigen Geschlechtereintrag durch eine Erklärung beim Standesamt ändern kann. Der Entwurf dazu liegt offenbar noch nicht vor. Ich würde gerne wissen, ab welchem Alter dies geplant ist. In der Schweiz gibt es seit Januar 2022 ein solches Gesetz. Jeder Mensch ab 16 Jahren kann durch eine einfache Erklärung beim Standesamt seinen Geschlechtereintrag ändern.
Hausärztinnen und Hausärzte sind erste Ansprechpartner ihrer Patientinnen und Patienten. Ich gestehe, bei dem Thema Transsexualität brauche ich Hilfe. Die Datenlage dazu erscheint mir noch recht dünn und es ist dringend geboten, eine Diskussion in der Ärzteschaft zu führen, wie wir uns darauf adäquat vorbereiten. Es braucht genügend Fortbildungsangebote zu diesem schwierigen Kapitel.
Mit meiner Patientin ist es mir doch noch gelungen, sie zu weiteren Gesprächen zu überreden. Im Laufe der Wochen stellten sich einige Komorbiditäten heraus wie eine Angsterkrankung und eine Essstörung. Wir haben gemeinsam entschieden, eine Psychotherapeutin hinzuzuziehen. Im Fall eines erwachsenen Patienten mit diagnostizierter Geschlechtsdysphorie stehe ich mit der nächstgelegenen Genderambulanz in Kontakt. Sie ist überlaufen und Termine sind mit langen Wartezeiten verbunden.
Eine Fortbildung habe ich inzwischen gefunden: „Die besonderen Herausforderungen bei der Begleitung von trans* und nichtbinären Kindern und Jugendlichen im medizinischen Kontext.“ Vor dem Hintergrund der aktuellen Forschungslage, dem ICD-11-Diskurs zur Geschlechtsinkongruenz sowie den Empfehlungen des Deutschen Ethikrates zur abwägenden Individualisierung von Behandlungsentscheidungen bei minderjährigen trans*-Personen wird auf die vielfältigen Konfliktfelder in der medizinischen Behandlung eingegangen.
Es bleibt herausfordernd!