Kommentar Opfer des Opfers
Der 16-jährige Praktikant, an einer Firmenrampe vom LKW zerquetscht, der in unserer Notaufnahme verblutete. Zwei Freunde, die in einem Erdbrunnen leblos aufgefunden und nach 1,5-stündiger Reanimation für tot erklärt wurden: Nur zwei Erlebnisse aus meiner Laufbahn, die sich eingebrannt haben. Wohl alle Mediziner:innen kennen Fälle, die sie lange beschäftigen oder bei denen sie sich gar vorwerfen müssen, nicht richtig gehandelt zu haben. Wie damit umgehen?
Das Thema Arzt/Ärztin als Second Victim, der oder die mit durchlebten Situationen nicht fertig wird, hat meine Kollegin Isabel Aulehla in dieser Ausgabe gründlich beleuchtet (S. 44). Mir persönlich sagte der Begriff vorher gar nichts – Opfer zu sein, gehört schließlich nicht gerade zum ärztlichen Selbstverständnis. Sollte es aber, denn natürlich brauchen auch wir Unterstützung, um Erlebnisse zu verarbeiten.
Die Basis, um stark belastende Situationen „verdauen“ zu können, ist sicherlich ein gehöriges Maß an Resilienz, die man mitbringt oder im Laufe der Zeit entwickelt. Unabhängig davon erleichtert es die Sache, wenn man sich mit anderen austauschen kann. Ich hatte immer das Glück, in empathischen Teams arbeiten zu dürfen, in denen wir schwere Fälle hinterher gemeinsam besprachen und uns gegenseitig kräftigten. Das ist aber keine Selbstverständlichkeit. Wie gut also, dass das Thema endlich ins Bewusstsein gerückt wird und Betroffene abseits des Kollegiums Hilfe finden können.
Dennoch bleibt meiner Meinung nach das direkte Umfeld gefragt. Es muss hinschauen und Hilfe anbieten, wenn Fälle besonders schwer wiegen oder etwas schiefgeht. Es geht nicht darum, dem Second Victim übertriebene Sensibilität zu unterstellen oder es gar anzuprangern. Vielmehr sollte die im Arztberuf geforderte Menschlichkeit auch ihm zuteil werden.
Dr. Anja Braunwarth
Redakteurin Medizin