Kommentar Hinsehen ist das Mindeste, was man tun kann
Ich kann verstehen, dass man sich die Welt derzeit anders wünscht. Es wäre wunderbar, wenn es dieses Virus nicht gäbe und Frieden auf Erden herrschte, weil Kriege und Ungerechtigkeiten aller Art abgeschafft würden. Doch die Wahrheit sieht anders aus. SARS-CoV-2 grassiert noch immer. Auch diese Woche fielen Bomben auf die Ukraine. Die Proteste in Iran halten an und das Regime schlägt weiter brutal zurück.
Ich verstehe, dass viele verdrossen sind. Doch solange sich die Situation in der Ukraine nicht nennenswert geändert hat, wird und muss es weiterhin Berichte darüber geben. Dass die Betroffenheit beim einen oder anderen Leser oder Zuschauer so langsam in Abgestumpftheit oder gar Genervtheit übergeht, wenn zum wiederholten Mal zerstörte Gebäude und deren verzweifelte Bewohner gezeigt werden, sollte zum Nachdenken anregen: Dieser Krieg dauert schon so lange, dass man es nicht mehr sehen und nicht mehr hören kann. Weil sich die Bilder jeden Tag ähneln, auch wenn sie jeden Tag neu sind.
Wie viele Intensivstationen wurden in den vergangenen zwei Jahren in den Abendnachrichten gezeigt, wie viele Pflegekräfte interviewt? Und wie viele Zuschauer haben dabei mit den Augen gerollt, weil sie es nicht mehr sehen können? Die Leute haben es satt, sie wollen etwas anderes sehen. Neue Bilder, neue Themen. Als wäre die Welt ein Hollywoodfilm, in dem es alle paar Minuten einen Szenenwechsel gibt.
Ich bin der Meinung: Genau das ist der Punkt, an dem man weiter hinsehen muss. Als nicht Erkrankter, nicht von Krieg und Unterdrückung Betroffener ist das das Mindeste, was man tun kann. Denn es hört nicht auf, auch wenn man es sich wünscht.
Kathrin Strobel
Redakteurin Medizin