Psycho-Krisen lassen die Bürokraten kalt
Noch immer warten Patienten hierzulande im Schnitt zwanzig Wochen auf eine Psychotherapie. Auch eine vor Jahresfrist in Kraft getretene Strukturreform hat daran bislang nur wenig geändert – ein ebenso untragbarer wie auch gefährlicher Zustand. So soll sich beispielsweise der psychisch kranke Amokfahrer von Münster vergeblich um einen Therapieplatz bemüht haben. Sind er (und die Opfer seiner Tat) ein Resultat der nach wie vor unzureichenden psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland? Dr. Dietrich Munz, der Präsident der Psychotherapeutenkammer, fordert denn auch bundesweit mindestens 7000 Praxissitze zusätzlich, vor allem außerhalb der Großstädte, wo die Wartezeiten besonders lang sind.
In Deutschland brauchen 1,4 Millionen eine Psychotherapie
Denn der Bedarf an psychotherapeutischen Behandlungen ist laut einer neuen Studie der Kammer deutlich gestiegen. Wurden 2011 noch 1,1 Millionen Menschen behandelt, waren es im vergangenen Jahr bereits 1,4 Millionen. Das wird in erster Linie darauf zurückgeführt, dass die Stigmatisierung psychisch Kranker abgenommen hat. Eine Ursache für die extrem langen Wartezeiten ist gewiss die veraltete Bedarfsplanung, die zuletzt 1999 aktualisiert wurde. Der Gesetzgeber hatte einen überarbeiteten Plan eigentlich bereits bis Anfang 2017 gefordert. Der dafür zuständige gemeinsame Bundesausschuss, in dem unter anderem Psychotherapeuten und Krankenkassen vertreten sind, erstellt derzeit wohl ein diesbezügliches Gutachten. Die neue Bedarfsplanung soll dann ab 2019 gelten. Es darf aus Patientensicht also weiter gewartet und monatelang herumtelefoniert werden.
In Sachsen sind beispielsweise derzeit rund 1100 niedergelassene Psychotherapeuten tätig. Trotz des gestiegenen Bedarfs aber hat sich an der Zahl der Behandler seit Jahren nichts geändert – und das, obwohl fast 400 ausgebildete Psychotherapeuten im Freistaat sofort beginnen könnten. Sie bekommen jedoch keine Kassenzulassung, denn die ist wie überall limitiert. So gibt es bundesweit gültige Vorgaben, für wie viele Einwohner ein Arzt oder Psychotherapeut auf Kassenkosten tätig werden darf.
All das tröstet Patienten kaum, die verzweifelt in einer absoluten Krise stecken. Nach nahezu einem halben Jahr des Wartens kann es für einige, vor allem für jene mit suizidalen Absichten, schon zu spät sein. Dabei sollte eigentlich die Abwendung von Selbst- und Fremdgefährdung stets im Vordergrund stehen. Ob die Amokfahrt von Münster bei rechtzeitiger Behandlung des Täters hätte verhindert werden können, lässt sich nicht seriös feststellen. Ein zusätzlicher Impuls, die entsprechenden Maßnahmen deutlich zu beschleunigen, sollte sie jedoch auf alle Fälle sein.