Spahns Termingesetz: „Totengräber des ambulanten Systems“
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will mit seinem Gesetz vor allem dafür sorgen, dass Kassenpatienten künftig schneller einen Termin beim Arzt bekommen. Die Aufgaben der KV-Terminservicestellen sollen deutlich erweitert und das Mindestsprechstundenangebot der niedergelassenen Ärzte soll erhöht werden. Schmackhaft gemacht werden soll die Mehrleistung den Ärzten mit extrabudgetärer Vergütung, Zuschlägen und Entbudgetierung.
Spahn will auch Zulassungsbeschränkungen für Kinder- und Jugendärzte und andere Fachgruppen vorübergehend aufheben, bis der Gemeinsame Bundesausschuss die Bedarfsplanung überarbeitet hat. Die KV Nordrhein und den Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) überzeugt das nicht. „Wie sorgen Sie, Herr Minister, angesichts des Kinder- und Jugendärzte-Mangels für die Umsetzung dieser Pläne? Und warum haben Sie sich nicht hierüber mit uns ausgetauscht, obwohl wir oft um Gespräche gebeten hatten? Wir sind irritiert!“, postete der BVKJ auf Spahns Twitter-Seite. Dessen Antwort: „Wir sorgen erst mal dafür, dass es u.a. für Padiäter keine Bedarfsplanung/Zulassungsbeschränkung mehr gibt. Und der @bvkj wird sich – wie andere relevanten Verbände auch – im weiteren Gesetzgebungsverfahren natürlich konstruktiv einbringen können.“
Misstrauen gegenüber der Selbstverwaltung
Die KBV bewertet zwar grundsätzlich positiv, dass sich das Prinzip „Mehr Leistung muss auch mehr Vergütung bringen“ in der Gesetzesvorlage widerspiegelt. Es fehle aber der Mut, den Weg der Entbudgetierung konsequent zu beschreiten. Kritisiert wird „die Kleinteiligkeit eines Wusts an Regelungen, die in die Praxisgestaltung eines freien Berufs erheblich eingreifen und zugleich ein Misstrauen gegenüber der Selbstverwaltung darstellen“.
Dies alles werde die Bürokratie in den Praxen noch einmal deutlich erhöhen, so KBV-Chef Dr. Andreas Gassen. Sein Vorstandskollege Dr. Thomas Kriedel beziffert die Bürokratielast auf ein bis zwei Stunden pro Woche zusätzlich.
Dreispuriger Zugang zu den Facharztpraxen
Skepsis auch bei KBV-Vorstandsvize Dr. Stephan Hofmeister. „Im Moment hat keiner die Fantasie, wie das gemacht werden soll“, sagte er u.a. mit Blick auf eine Extravergütung für Patienten, die direkt vom Hausarzt zum Facharzt vermittelt werden. Solche Patienten und Überweisungsvorgänge zu erfassen und zu überprüfen sei letztlich Aufgabe der KVen. Ein Zuschlag in Höhe von mindestens fünf Euro für die erfolgreiche Vermittlung eines Behandlungstermins soll laut Gesetzentwurf im EBM verankert werden.
Zweifel an der Umsetzung des vom Kabinett beschlossenen Gesetzentwurfs äußert auch der Bundesvorsitzende des NAV-Virchow-Bundes, Dr. Dirk Heinrich. Für den Patienten führe der Weg zum schnelleren Termin beim Facharzt über drei Spuren: über die Terminservicestellen, über die direkte Vermittlung durch den Hausarzt und über offene Sprechstunden. Für jede dieser Spuren brauche der Patient eine Überweisung vom Hausarzt. „Das mag in vielen Fällen sinnvoll sein. Ob es allerdings als generelle Regelung sinnvoll ist, steht durchaus infrage“, so der NAV-Vorsitzende Dr. Heinrich.
In einer Resolution bringen die Mitglieder der KBV-Vertreterversammlung (VV) ihre Kritik auf den Punkt: Viel zu kleinteilig und nicht geeignet, die Versorgung zu verbessern sowie die Attraktivität der Niederlassung zu erhöhen, heißt es. Das TSVG sei „geprägt von einem tiefen Misstrauen und einer Missachtung des freien Berufs“. „Wer so denkt, betätigt sich als Totengräber des ambulanten Systems – und tut das entweder wissentlich entgegen aller Fakten und Belege oder dokumentiert völlige Ahnungslosigkeit.“
Psychotherapie: KBV-VV sieht keine Verbesserung
Von „entscheidenden Verbesserungen“ für Patienten geht dagegen Martin Litsch, der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, aus. Er verweist auf die ebenfalls im Gesetzentwurf verankerte digitale Vernetzung der Akteure im Gesundheitswesen und ein Stufenkonzept in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung, das „die Behandlung für Patienten bedarfsgerechter und flexibler“ mache.
Verbesserungen in der psychotherapeutischen Versorgung sieht die KBV-Vertreterversammlung dagegen nicht. In einer weiteren Resolution fordert sie, die Änderung am § 92 SGB V zu streichen. „Die gesetzliche Vorgabe, eine gesteuerte Zuweisung von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu definierten Behandlungsformen zu entwickeln, würde die Patienten in ihrem Recht auf eine partizipative Entscheidungsfindung hinsichtlich verschiedener Behandlungsformen unzulässig beschränken.“ Die VV befürchtet „eine ungeheure Diskriminierung dieser Patientengruppe“.
Die im Kabinettsentwurf implizit geäußerte Erwartung, dass Wartezeiten verkürzt werden, indem einem Teil von Menschen mit psychischen Erkrankungen durch neue Hürden der Zugang zur psychotherapeutischen Versorgung versperrt werde, sei zynisch und stelle eine Verschlechterung der Patientenversorgung dar.
Ein Haufen Aufgaben
- Die Terminservicestellen werden zu „Servicestellen für ambulante Versorgung und Notfälle“ umgebaut. Über die Notdienstnummer 116117 sind sie jederzeit erreichbar. Sie vermitteln in Akutfällen Patienten auch während der Sprechstundenzeiten an Praxen oder Notfallambulanzen und vergeben sogar Termine für Haus- und Kinderärzte. Jährlicher Mehraufwand für die KVen: ca. neun Mio. Euro.
- In der Zulassungsverordnung für Vertragsärzte werden mindestens 25 Stunden Sprechstunde pro Woche (inklusive Hausbesuchszeiten) festgelegt. Grundversorgende Fachärzte wie konservativ tätige Augenärzte, Frauen- und HNO-Ärzte müssen mindestens fünf Stunden pro Woche als offene Sprechstunde anbieten.
- Vermittelt der Hausarzt einen dringenden Facharzttermin, gibt’s dafür mindestens fünf Euro extra. Für erstmals oder nach mindestens vier Jahren wieder behandelte Patienten ist ein Zuschlag von mindestens 25 % auf die Versicherten- bzw. Grundpauschale vorgesehen und für Leistungen, die in den fünf offenen Sprechstunden pro Woche (= Limit) erbracht werden, mindestens 15 %.
- Der Strukturfonds der KVen wird auf bis zu 0,2 % der Gesamtvergütung verdoppelt und kann dann z.B. auch für Investitionskosten bei Praxisübernahmen genutzt werden. Die KVen werden verpflichtet, in unterversorgten oder von Unterversorgung bedrohten Gebieten Eigeneinrichtungen oder mobile und telemedizinische Versorgungsalternativen anzubieten.
- Künftig wird der Zulassungsausschuss prüfen, ob ein Bedarf für die Nachbesetzung einer genehmigten Anstellung im MVZ besteht. Ein Vertragsarzt kann auf die Zulassung zugunsten eines in einem anderen Planungsbereich gelegenen MVZ verzichten, wenn er ausschließlich in der MVZ-Zweigpraxis in seinem bisherigen Sprengel tätig wird. Um zu verhindern, dass einem MVZ nach dem Ausscheiden aller originären Gründer die Zulassung zu entziehen ist, wird geregelt, dass die Gründungsvoraussetzung gewahrt bleibt, wenn angestellte Ärzte die Gesellschafteranteile übernehmen, solange sie in dem MVZ tätig sind. Klargestellt wird: Ein MVZ-Träger kann mehrere MVZ betreiben.
- Die Kassen bezahlen für Versicherte ab 16 Jahren mit substanziellem HIV-Infektionsrisiko die ärztliche Beratung über eine medikamentöse Präexpositionsprophylaxe sowie Untersuchungen, die bei Anwendung der zugelassenen Arzneimittel erforderlich sind. Der Anspruch auf künstliche Befruchtung wird erweitert um die Kryokonservierung von Keimzellgewebe, Ei- und Samenzellen in Fällen, in denen eine keimzellschädigende Behandlung, z.B. bei Krebserkrankung, zu Fertilitätsverlust führen könnte. Patienten stehen künftig die Impfstoffe aller Hersteller zur Verfügung (kein Ausschluss durch Verträge). Die Krankenkassen müssen ihren Versicherten spätestens ab 2021 eine elektronische Patientenakte anbieten, die auch per Smartphone oder Tablet einsehbar ist.
- Die Höhe der jährlichen Vergütung jedes Vorstandsmitglieds einschließlich aller Nebenleistungen und Versorgungsregelungen ist jährlich am 1. März im Bundesanzeiger und auf der Internetseite der jeweiligen KV zu veröffentlichen. Vergütungserhöhungen während der Amtszeit von KBV-Vorstandsmitgliedern werden unzulässig. Bei neuen Amtszeiten kann ein Zuschlag auf die Grundvergütung gemäß der Inflationsrate vereinbart oder von der Aufsichtsbehörde ein niedrigeres Salär angeordnet werden.(REI)